Ralf Schröder: „Der Meister und Margarita“ – die absolute Spitze beim Ausgraben der unter Stalin verdrängten literarischen Vergangenheit (1997)
Die absolute Spitze beim Ausgraben der unter Stalin verdrängten literarischen Vergangenheit in der Zeit nach dem XX. Parteitag war die Veröffentlichung des Romans „Der Meister und Margarita“ in der Zeitschrift „Moskva“ („Moskau“) 11/66 und 1/67. Unverkennbar war schon auf den ersten Blick: Hier wurden die Widersprüche des Stalinschen „Sozialismus in einem Land“ auf weltliterarischer Ebene als eine zu überwindende Zwischenzeit sarkastisch ad absurdum geführt. Ein großer Eideshelfer für die Notwendigkeit der radikalen Abrechnung mit dem Stalinismus und der weiteren, vertieften Entfaltung sozialistischer Demokratie war plötzlich aus dem Vergessen aufgetaucht. Doch wie konnte dieses Meisterwerk in der damaligen DDR publiziert und verbreitet werden, in der selbst das Wort „Personenkult“ nach dem Ende der „Tauwetter“-Zeit verboten worden war? Der zeitgeschichtliche Bezug des Romans mußte unbedingt verschleiert werden. Nur die Betonung der menscheitsgeschichtlichen Bedeutung, der humanistisch-aufklärerischen weltliterarischen Traditionen und Qualitäten konnte eine DDR-Veröffentlichung rechtfertigen und sogar erzwingen, da die Pflege dieser Traditionen zum übergreifenden Partei- und Verlagsprogramm gehörte.
Für eine entsprechende Argumentation hatte Bulgakow selbst vorgearbeitet, der, auch wenn man die neuen Freiheiten nach dem XX. Parteitag berücksichtigt, unter prinzipiell analogen zeitgeschichtlichen Zwängen publizieren wollte. Er war in jeder Beziehung ein Vorläufer und Vorbild. Hinzu kam, daß die Fausttradition, auf die sich Bulgakows Roman wortwörtlich bezieht, in Ulbrichts Konzeption einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ erstrangige Bedeutung hatte, sozusagen eine Chefsache war. „Wenn ihr wissen wollt, wie es weitergeht, lest das Kommunistische Manifest und Goethes ‚Faust‘“, hatte Ulbricht autoritär und allgemeinverbindlich betont.1 Das bot zwar günstige Möglichkeiten, die Veröffentlichung des Romans zu begründen, bereitete aber zugleich ernsthafte Schwierigkeiten. Denn nicht jede Fausttradition war gestattet. Eislers „Johann Faustus“2, der Goethes Gestalt „zurücknahm“, war grundsätzlich verdammt worden. Es galt daher zu erklären und zu rechtfertigen, was in Bulgakows Roman dem gewünschten Bild von einem sozialistischen Faust widersprach.
Die Schwierigkeiten erschienen äußerlich unüberwindbar. Zunächst und vor allem: Was bedeutet ein „Roman über den Teufel“ im Moskau der 20er und 30er Jahre? Nach offizieller Sicht sollte doch der sozialistische Faust ohne Teufelshilfe auskommen … Die auch offiziell hochgeschätzte Anna Seghers bot die entscheidende Schützenhilfe. Sie hatte schon vor dem Auftauchen von Bulgakows Teufelsroman gefragt: „Einen langen Weg hat der Teufel zurückgelegt, vom ‚Buch Hiob‘ in der Bibel bis zum ‚Prolog im Himmel‘ im ‚Faust‘. Von Iwan Karamasow zu Adrian Leverkühn war es nur ein Sprung – noch längst kein Jahrhundertsprung. (…) Kann der Teufel sich noch einmal in einer Dichtung unserer Epoche verselbständigen? Nicht entmachtet, entteufelt …, sondern im Vollbesitz seiner Macht … Kann er noch einmal, nach Dostojewski und nach Thomas Mann, glaubhaft dargestellt werden, als Widerspiegelung eines grauenhaft verlockenden Zweifels, der heute Menschen verwirrt?“3 Dieses Seghers-Zitat wurde zum Aufhänger des Klappentextes gewählt. Und der Bezug auf die Bibel, Goethe, Dostojewski und Thomas Mann ordnete Bulgakow zugleich in die zu pflegende klassische Kulturtradition ein und stellte ihn als einen „Vorläufer“ heraus, von dem es unbillig sein mußte, einen klassischen sozialistischen Faust-Roman zu erwarten. Dieser Aspekt wurde untermauert durch die Darstellung der objektiven Analogien, die zwischen dem Autor der „Buddenbrooks“ und dem der „Weißen Garde“4 bestehen, die sich beide selbst als „letzte Bürger“ verstanden, sowie der auffälligen Gemeinsamkeiten in den sozialethischen Utopien der Romane Bulgakows und Dostojewskis, der „schattenhaften Apokalypsen“ (Th. Mann).
Bulgakows Roman als eine literarische „Schlacht unterwegs“ auf dem Wege zum Sozialismus einzuordnen, bot sich in doppelter Hinsicht als günstiges Argument an. Galina Nikolajewas5 „Schlacht unterwegs“ war der zeitgeschichtliche sowjetische Roman des XX. Parteitags. Und neue „Schlachten unterwegs“ standen an, auch wenn 1956/57 in der DDR Anhänger des XX. Parteitags von oben „unterwegs abgeschlachtet“ worden waren. Nikolajewas Roman war nach anfänglichem Zögern und sogar dem Verbot der im Verlag bereits begonnenen Übersetzung schließlich von Ulbricht selbst sanktioniert worden.6 Offiziell konnte daher niemand etwas gegen eine zeitgeschichtlich frühere „Schlacht unterwegs“ aus den 30er Jahren einwenden. Und dem angesprochenen Leser von „Der Meister und Margarita“ bot diese Etikettierung des Romans eine unmißverständliche Orientierungshilfe zum Verständnis von dessen tagespolitischer Bedeutung.
Alles konnte durch Engels‘ Worte abgesichert werden, daß auch schwächere, nach Goethes „Faust“ entstandene Faust-Werke den gewichtigen Faust-Stoff um neue Aspekte bereichern …7
All das floß in die Argumentation von Gutachten und Nachwort ein. Nachdem der Verlagsleiter Walter Czollek das Nachwort gelesen hatte, sagte er, nun sei klar, daß wir diesen Roman nicht nur veröffentlichen können, sondern sogar propagieren müssen. Waldmann in der Rezension der „Ostseezeitung“ witterte literarische Diversion …8
War das alles nur eine „Irreführung der Behörden“9?
Es war vor allem auch ein Prozeß der Erschließung Bulgakows. Bei meinem ersten Nachwort zu Bulgakow 196710 stand die Bulgakow-Forschung noch ganz am Anfang. Sogar die meisten Stücke, Erzählungen und Briefe Bulgakows sowie die sein Leben und sein Werk betreffenden zeitgeschichtlichen Dokumente waren damals noch unbekannt. Aber die Richtung der Analyse des Romans, die zu der neuen Zwischenbilanz in den „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ des Bandes 13/II der letzten Bulgakow-Ausgabe 1996 führte, war bereits 1967 fixiert.11
(In: Ralf Schröder: Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans., S. 235-238)
Anmerkungen von Michael Leetz:
- Diese Worte stammen aus Ulbrichts Rede auf dem III. Kongress des Nationalrats der Nationalen Front 1958. ↩
- Im Jahre 1952 erschien im Berliner Aufbau-Verlag Hanns Eislers Opernlibretto „Johann Faustus“, das im Jahre 1953 eine heftige Auseinandersetzung auslöste: die sogenannte Faustus-Debatte. Eisler wurde vorgeworfen, mit seiner negativen Darstellung der Figur des Faust die Bedeutung von Goethes Werk für die Geschichte des deutschen Volkes herabgesetzt zu haben. Zur Faustus-Debatte und ihren tieferen Ursachen siehe genauer Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 bis 2000. – Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2003, S. 97-103. ↩
- Zitat aus Anna Seghers Essay über Dostojewskis Romangestalten und ihre Rezeption in der Literatur des 20. Jh.: „Woher sie kommen, wohin sie gehen“ (1962). Siehe Anna Seghers: Über Tolstoi. Über Dostojewski. – Aufbau-Verlag, Berlin 1963, S. 94. ↩
- „Die weiße Garde“ (1923/24) ist der erste Roman Michail Bulgakows. ↩
- Galina Nikolajewa (1911–1963), Schriftstellerin. ↩
- In der Sowjetunion erschien „Schlacht unterwegs“ 1957, in der DDR 1962. ↩
- Gemeint ist folgende Aussage Engels‘ über „zwei Sagen, die das deutsche Volk schuf und ausbildete (…) Ich meine die Sage von Faust und vom ewigen Juden. Sie sind unerschöpflich, jede Zeit kann sie sich aneignen, ohne sie in ihrem Wesen umzumodeln; und wenn auch die Bearbeitungen der Faustsage nach Goethe zu den Iliaden post Homerum gehören mögen, so decken sie uns doch immer neue Seiten daran auf …“. Siehe MEW. Ergänzungsband. Zweiter Teil. – Dietz Verlag, Berlin, S. 16f. ↩
- Aus dem Artikel von Walter Waldmann „Teufel ohne Gegenspieler?“ in der „Ostseezeitung“ vom 15.2.1968: „In Bulgakows Roman ist von der humanistischen Mission als historischer Mission der Arbeiterklasse keine Spur. Insofern ist es kein Zufall, daß Volands Gegenspieler – eben in der Gestalt des Meisters und der Margarita – die alles überwindende menschliche Liebe und der Glaube an das Gute im Menschen schlechthin sind. ‚Alle Menschen sind gut.‘ Diese Maxime durch die Jahrtausende im guten Menschen als unverletzbares Postulat erhalten zu müssen, das ist das zentrale Anliegen, das der Meister in seinem Roman gestaltet hat.
Es spricht für Bulgakows ehrliches Bemühen um Objektivität, daß er Voland dieser Maxime (…) sich beugen läßt, als die junge Sowjetmacht sich stabilisiert. Es verdeutlicht jedoch Bulgakows historisches Unverständnis und die Grenzen seiner realistischen Gestaltungskraft, wenn er die Realisierbarkeit des Humanismus nicht als Folge des historischen Kampfes der Sowjetmacht begreift.
Dem Roman ist ein umfangreiches Nachwort angefügt. Sicher darum, weil der Verlag dem Leser ein so problematisches Buch ohne Hilfestellung nicht in die Hand geben wollte. Aber dieses Nachwort ist keine Hilfe. Selten habe ich ein Nachwort gefunden, das so klug alle Probleme aufspürt und doch so verwirrend wirkt, weil es sich um jedes Problem herumwindet. Sollte der Verlag sich zu einer weiteren Auflage entschließen, dann ist eine objektiv-parteiliche Einschätzung der verzerrten geschichtsphilosophischen Konzeption des Buches an Stelle des Nachwortes ausdrücklich zu empfehlen.“ Zitiert nach: Michail Bulgakow. Texte, Daten, Bilder. (Hrsg. v. Thomas Reschke). – Luchterhand Literaturverlag, Frankfurt a. M. 1991, S. 138. ↩ - Titel eines Romans von Jurek Becker aus dem Jahre 1973. ↩
- Ralf Schröder: Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ im Spiegel der Faustmodelle des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita. – Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1968, S. 393-428. ↩
- Zu der übereinstimmenden Grundtendenz der Erkenntnisse in Ralf Schröders erstem Nachwort zu Bulgakow 1967 und in seinem letzten 1996 siehe Ralf Schröder: Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans., S. 344 die Passage „Erstes und letztes Bulgakow-Nachwort“. ↩