Vorwort

Vorwort zum „Unaufhörlichen Anfang“ vom Herausgeber Michael Leetz

Der Slawist Ralf Schröder (4. November 1927 – 15. April 2001) ist wohl eine besondere Erscheinung in der DDR gewesen und auch nach der Wende geblieben. Er saß sieben Jahre in einer Einzelzelle in Bautzen II, weil er sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Geiste des „Tauwetters“ für demokratische und sozialistische Reformen in der DDR eingesetzt hatte. Trotz dieser bitteren Erfahrung wandte er sich nicht vom Ideal des Sozialismus ab. Als unbeirrter Marxist analysierte er von innen heraus die Widersprüche des „real existierenden Sozialismus“ und deren tiefere Ursachen, die für ihn in der besonderen Genesis und Entwicklung der Russischen Revolution begründet lagen, welche, weil sie isoliert blieb, schließlich zum Stalinschen System und zur Deformation des Sozialismus führte. Der Schlüssel zum tieferen Verständnis dieser Tragödie der Russischen Revolution war für ihn die russische und sowjetische, oder, wie es Ralf Schröder selbst ausgedrückt hat, die „andere“ sowjetische Literatur.

Diese „andere“ – im Sinne von: anders als die offizielle, dem Kanon vom „sozialistischen Realismus“ entsprechende – sowjetische Literatur verkörperten für ihn jene Autoren und deren Werke, die seit 1927, dem Jahr, das die endgültige Wende zum Stalinschen System markiert, in der Sowjetunion „vergessen“, verdrängt und verboten waren: Jewgeni Samjatin, Alexander Tarassow-Rodionow, Isaak Babel, Wikenti Weressajew, Michail Bulgakow, Andrej Platonow sowie Maxim Gorkis und Ilja Ehrenburgs „vergessene“ Werke. Und dazu zählen auch jene Schriftsteller, die im Geiste des „Tauwetters“ an diese „Literatur in der Tiefe“ (Juri Tynjanow) seit den 50er Jahren anknüpften und deren enger Freund und Weggefährte Ralf Schröder seit den 70er Jahren war: Juri Trifonow, Wladimir Tendrjakow, Bulat Okudshawa, Tschingis Aitmatow, Daniil Granin. In der „anderen“ Literatur sah er den Ansatz der Alternative zum bestehenden System und den Vorboten eines grundlegenden sozialistischen Wandels, der nach langen Jahren unterirdischer Arbeit mit der „Perestroika“ dann tatsächlich „aus der Tiefe“ an die Oberfläche stieß und geschichtsmächtig zu werden versprach, schließlich aber in eine allgemeine „Katastroika“ (Alexander Sinowjew) umschlug.

Rückblickend vom Ende seines Lebens aus und in dem Wissen um den Zusammenbruch des Staatssozialismus begann Ralf Schröder am 7. Juli 2000 mit der Niederschrift seines autobiographischen Buches „Mein Roman mit der russischen und sowjetischen Literatur“. Das Wort „Roman“ ist hier im Sinne der russischen Sprache gebraucht, wo es auch „Liebesbeziehung“ bedeutet. Die Hauptfigur des Romans sollte seine Geliebte, die russische und sowjetische Literatur sein, als deren Mittler sich Ralf Schröder verstand.

Am 15. April 2001, einem Ostersonntag, starb Ralf Schröder. Als er mit der Arbeit am Roman begann, sagte er, daß er bis zu dessen Vollendung noch zehn Jahre brauchen werde. Da ihm von dieser Zeit nicht einmal ein Jahr gegeben war, liegt der Roman lediglich in Bruchstücken vor. Allerdings führte Ralf Schröder von 1995 an Tagebuch. Er nannte es „Aufzeichnungen auf dem Bildschirm“. Diese „Aufzeichnungen“ sind einerseits Arbeitsnotizen für die „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ zu den letzten beiden Bänden der 13bändigen Werkausgabe Michail Bulgakows, die Ralf Schröder von 1992 bis 1996 im Verlag Volk und Welt herausgab. Andererseits betrachtete er sie als Material, das fruchtbar werden kann für den künftigen Roman, der schon lange vor dem Beginn der eigentlichen Niederschrift in ihm reifte.

Ralf Schröder hat, schon nachdem er im Sommer 2000 mit dem Schreiben begonnen hatte, eine vorläufige Gliederung seines „Romans mit der russischen und sowjetischen Literatur“ entworfen. An Hand dieses Gliederungsentwurfs, der die Überschriften der geplanten Kapitel enthält, stellte ich als der Herausgeber die Texte meines Vaters zusammen: die Fragment gebliebenen Romankapitel und die thematisch auf den Roman zielenden Tagebucheintragungen. Ergänzt wurden diese Texte durch Briefe, Vorträge und Rundfunkinterviews.

Der von mir gewählte Titel „Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans“ soll den fragmentarischen Charakter des Buches unterstreichen. Er hat aber noch einen tieferen Sinn. „Unaufhörlicher Anfang“: so überschrieb Ralf Schröder nicht nur den ersten Teil des Romans, so heißt auch der Essay seines Schriftstellerfreundes Juri Trifonow, in dem dieser sein literarisches Schaffen als einen unaufhörlichen Anfang beschreibt. Darüber hinaus erinnert der Titel an das Buch „Das Ende ist der Anfang“ des sowjetischen Gesellschaftswissenschaftlers Wadim Rogowin, der einer der wenigen Trotzkisten in der Sowjetunion war und dem sich Ralf Schröder sehr verbunden fühlte. Mit dem Ende, das einen Anfang in sich birgt, ist bei Rogowin der Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus gemeint.

Der zweite Teil des Titels – „Vorboten eines Romans“ – knüpft ebenfalls an Ralf Schröders eigene Worte aus dem Romanfragment an: Er selbst bringt die Befürchtung zum Ausdruck, seinen Roman nicht mehr vollenden zu können, hofft aber, daß dieser sich wenigstens als Vorbote ereignen wird. Das Wort „Vorbote“ entnahm Ralf Schröder dem Gedicht „Kinder der Nacht“ des russischen Symbolisten Dmitri Mereshkowski aus dem Jahre 1896: „Allzu frühe Vorboten / Eines allzu langsamen Frühlings.“ In den Jahren der finstersten Reaktion des Zarismus, in denen die russische Geschichte auf Eis gelegt zu sein scheint, bringt der Dichter mit diesen Worten die Hoffnung auf den Anbruch einer neuen Zeit zum Ausdruck, wohl wissend, daß darauf noch lange zu warten sein wird. In einer vollkommen anderen historischen Situation wird 60 Jahre später Ilja Ehrenburg an diese Symbolik Mereshkowkis anknüpfen: in seinem Roman „Tauwetter“, der einer ganzen Periode der sowjetischen Geschichte den Namen gab. (An diesem literaturgeschichtlichen Traditionsbezug ändert auch die Tatsache nichts, daß Mereshkowski später jedweder Hoffnung auf humanistische Alternativen zum Zeitgeschichtlichen eine Absage erteilte und als persönlicher Freund Mussolinis sowie Anhänger Hitlers und dessen Krieges gegen die Sowjetunion zum Boten einer mörderischen faschistischen Nacht wurde.) Auch Ralf Schröder verband mit seinem Roman die Hoffnung auf sozialistische Vorboten, obwohl der Anbruch eines sozialistischen Frühlings in weite Ferne gerückt zu sein scheint.

Nach dem Gliederungsentwurf sollte der Roman aus fünf Teilen bestehen. Den ersten Teil „Unaufhörlicher Anfang“ eröffnet ein Traum, den Ralf Schröder am Morgen des 7. Juli 2000 hatte. Er gab den entscheidenden Anstoß zur Niederschrift des Romans, weshalb der Zeitpunkt des Beginns der Arbeit genau datiert werden kann. Im Traum erscheint Ralf Schröder während einer Sitzung im Lektoratszimmer des Berliner Aufbau-Verlages im Sommer 1968, auf der gerade sein Nachwort zu Gorkis erstem Roman „Foma Gordejew“ verurteilt werden soll, der längst verstorbene Schriftsteller höchst persönlich. Ralf Schröder ergreift die einmalige Gelegenheit und befragt Gorki zu den Geheimnissen und Rätseln seines Lebens, die niemand außer dem Schriftsteller selbst entschlüsseln kann. Der Traum wird aber jäh durch das Morsen eines Reiseweckers abgebrochen, das Ralf Schröder aus dem Schlaf reißt.

Im zweiten Kapitel „Wie mein Roman mit der russischen Literatur angefangen hat und wie ich ihn niederschreibe“ berät sich Ralf Schröder mit den ihm besonders nahen Schriftstellern darüber, wie sein Roman niederzuschreiben sei. Das Kapitel dient der Ausbreitung des Materials und der Selbstverständigung.

In den folgenden Kapiteln erzählt Ralf Schröder bis zum Ende des ersten Romanteils seine Lebensgeschichte von seiner Kindheit im faschistischen Deutschland bis zu seiner Verhaftung im September 1957, wobei es die russische und sowjetische Literatur ist, die ihn wie ein Ariadnefaden durch das Labyrinth der Zeitgeschichte führt. Sehr aufschlußreich ist seine Schilderung, wie er in der Nachkriegszeit als Student der Slawistik und Geschichte in seinem Studium ganz unmittelbar von den Schriften Marx‘, Engels‘ und Lenins im Original ausging und deshalb bald in Konflikt mit der offiziellen Lehrmeinung geriet, dem zur religiösen Heilslehre erstarrten „Marxismus-Leninismus“. Auch und gerade in der Literaturwissenschaft waren Konflikte vorprogrammiert, weil sich Ralf Schröder an Georg Lukács‘ Auffassungen orientierte, die dem Shdanowschen Kanon vom „sozialistischen Realismus“ und der Forderung nach der „Parteilichkeit in der Literatur“ widersprachen. Neben Lukács wurde Ralf Schröder entscheidend auch von dem Romanisten Werner Krauss und dessen Aufsatz „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“ geprägt. Und in der Tat wurde für ihn die Vermittlung und Verbreitung der Literaturgeschichte zum geschichtlichen Auftrag.

Der 17. Juni 1953, besonders aber der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, sind entscheidene Ereignisse, die in Ralf Schröder eine geistige Wende und Befreiung bewirken. Da er nun für Reformen im Sinne des „Tauwetters“ in der DDR eintritt, gerät er in Konflikt mit der politischen Führung der DDR, mit Walter Ulbricht an der Spitze, und gehört von nun an zur innerparteilichen Opposition. In der Schilderung der Zeit vom XX. Parteitag bis zu seiner Verhaftung im Herbst 1957 kommt Wolfgang Harich eine besondere Bedeutung zu, der eine Schlüsselfigur in den innerparteilichen Auseinandersetzungen in der DDR 1956/57 gewesen ist und mit dem sich Ralf Schröder solidarisierte.

Mit besonderer Spannung werden die Leserinnen und Leser dieses Buches sicherlich erwarten, wie Ralf Schröder die unmittelbaren Umstände seiner Verhaftung, den Gerichtsprozeß und die Haftzeit schildert. Diese Erwartungen werden nicht erfüllt. Solche Schilderungen fehlen vermutlich nicht nur deshalb, weil der Roman Fragment geblieben ist. Ich habe vielmehr den Eindruck, daß selbst dann, wenn mein Vater seinen Roman hätte beenden können, er die Beschreibung seines persönlichen Schicksals nicht in den Vordergrund gestellt hätte. Hauptgegenstand des Buches sollte nach Bekunden des Autors die russische und sowjetische Literatur als Paradigma der Geschichte sein. Die persönlichen Erlebnisse sollten nur dann in Erscheinung treten, wenn sie wesentlich für das Verständnis des Paradigmas sind.

Ganz in diesem Sinne heißt der zweite Romanteil „Literaturgeschichte als innerer Dialog“. Es geht um eben jenen inneren Dialog, den Ralf Schröder in den sieben Jahren Einzelzelle in Bautzen II führte und der es ihm ermöglichte, das Faust-Karamasow-Kryptogramm in der russischen und sowjetischen Literatur zu ergründen; der Begriff wird weiter unten erklärt.

Der dritte Romanteil trägt nach dem Wort des Slawisten Fritz Mierau den Titel „Angewandte Literaturgeschichtsschreibung“. Gemeint ist mit diesem Begriff, wie sich in Nachworten, Vorträgen und Lesereisen im Dialog mit den Leserinnen und Lesern in der DDR eine andere Literaturgeschichtsschreibung herausbilden konnte, die, im Gegensatz zur offiziellen, ein umfassendes Bild der Literatur vermittelte, zu dem auch lange tabuisierte Werke zählten, die die Widersprüche des realgeschichtlichen Sozialismus besonders tief erfassten und deren Überwindung künstlerisch antizipierten.

Die Möglichkeit zur „angewandten Literaturgeschichtsschreibung“ erhielt Ralf Schröder nach seiner Freilassung 1964 im Verlag Volk und Welt, wo er als verantwortlicher Lektor für Sowjetliteratur von 1966 bis 1988 arbeitete, die „andere“ Literatur zu erschließen half und sie in zahlreichen Vorträgen in der gesamten DDR verbreitete.

Einen besonderen Stellenwert nehmen im dritten Romanteil Ralf Schröders Briefe an Fritz Mierau ein, in denen er sich mit diesem, der im Hinblick auf die Verbreitung der „anderen“ Literatur sein Verbündeter war, über die „Angewandte Literaturgeschichtsschreibung“ austauschte.

Für die beiden letzten Teile des Romans – „‚Literaturgeschichtliche Anmerkungen‘ 1992–1996“ und „Epilog und Prolog“ – existieren nur wenige Vornotizen. Ich habe mich dazu entschlossen, nur die Vornotizen des vierten Teils in das Buch aufzunehmen, da diejenigen für „Epilog und Prolog“ aus Stichpunkten bestehen, deren Sinn sich nicht hinreichend erschließen läßt.

Die Erklärung des von Ralf Schröder geprägten Begriffs „Faust-Karamasow-Kryptogramm“ kann hier nur in stark vereinfachter Form erfolgen, da er einen äußerst komplexen Sachverhalt beschreibt:

In der russischen Literaturgeschichte ist die Gestalt des Iwan Karamasow aus den „Brüdern Karamasow“ von Dostojewski als Typ eines russischen Faust rezipiert worden. Besonders augenfällig wird Iwan Karamasows Verbindung mit dem Goetheschen Faust durch seine Begegnung mit dem Teufel, die im Roman gespiegelt wird in der Begegnung von Jesus mit dem Großinquisitor im mittelalterlichen Spanien, von der Iwan Karamasow in der „Legende vom Großinquisitor“ erzählt.

In der Folge entstand in Rußland eine ganze Faust-Karamasow-Publizistik. Diese Traditionslinie entwickelte die frühe Sowjetliteratur weiter. Hier ist vor allem Ilja Ehrenburg und sein Roman „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito“ zu nennen und in ihm das berühmte Kapitel „Der Großinquisitor außerhalb der Legende“, das in der Sowjetunion seit dem Ende der 20er Jahre verboten war. Hier erscheint der „Meister“ Julio Jurenito beim „Steuermann“ im Kreml, dem neuen Großinquisitor, in dem unschwer Lenin zu erkennen ist, um diesem in der Art des Karamasowschen Teufels, der Iwans geheimste Gedanken entlarvt, die Widersprüchlichkeit seines Bestrebens bewußt zu machen, die Menschen mit Gewalt in das sozialistische Paradies treiben zu wollen. Ich beabsichtigte, das Kapitel „Der Großinquisitor außerhalb der Legende“ im Anhang dieses Buches als einen Schlüsseltext abzudrucken. Dies war jedoch aus autorenrechtlichen Gründen leider nicht möglich.1

An Ehrenburgs „Großinquisitor außerhalb der Legende“ knüpft Michail Bulgakow in seinem Roman „Der Meister und Margarita“ an. Der Teufel Voland und seine Suite suchen das Moskau der 30er Jahre heim, um die Widersprüche der nunmehr Stalinschen Sowjetunion zu entlarven. Und nicht von ungefähr sind Bulgakows Roman die Worte aus Goethes „Faust“ vorangestellt: „Nun gut, wer bist Du denn?“ – „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Ehrenburg wie Bulgakow nannten die Haupthelden ihrer Romane „Meister“ und gestalteten sie als Faustfigur. Beide griffen in ihren Romanen auf Dostojewskis „Legende vom Großinquisitor“ zurück, um Widersprüche zu erfassen, die die Sowjetunion entscheidend prägten, ja systembestimmend wurden. Ralf Schröder bezeichnet die Stalinsche Sowjetunion im Sinne dieser Traditionslinie als „Großinquisitorstaat“, dessen Herrschaftssystem auf einer Großinquisitorlüge aufbaute. Die Lüge des mittelalterlichen Großinquisitors besteht in der Vernichtung der Lehre Christi im Namen Christi, die des sozialistischen Großinquisitors (Stalin) in der Errichtung des Sozialismus mit Mitteln, die dem ursprünglichen Ideal des Sozialismus zuwiderlaufen und den Sozialismus selbst letztlich zerstören.

Der sozialistische Großinquisitor will den Sozialismus im Sinne der Worte des greisen Faust errichten, der vom „freien Volke auf freiem Grund“ träumt: „Daß sich das größte Werk vollende, genügt ein (kursiv – Goethe) Geist für tausend Hände.“ Eine Gesellschaft, in der die Emanzipation des Menschen vollbracht ist, wäre nach dem „Kommunistischen Manifest“ aber eine, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, und nicht eine, in der ein Geist für tausend Hände entscheidet. Der junge Marx hat das bereits drei Jahre vor der Entstehung des „Kommunistischen Manifests“ in seinem „Pariser Fragment“ von 1844 folgendermaßen ausgedrückt: „Es ist vor allem zu vermeiden, die ‚Gesellschaft‘ wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.“ Diesen Satz führt Werner Krauss am Ende seines Essays „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“ als dessen Quintessenz an. Das Aufzeigen des Widerspruchs des „Ein Geist für tausend Hände“, in dessen Sinne der sozialistische Großinquisitor „seinen“ Sozialismus aufbaut, mit dem ursprünglichen Ziel des Sozialismus – „Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.“ – zielt auf die Aufdeckung der Großinquisitorlüge. Modellhaft ist dieser Widerspruch im Faust-Karamasow-Kryptogramm in der russischen und sowjetischen Literatur verdichtet. Die Entschlüsselung dieses literaturgeschichtlichen Kryptogramms ist für Ralf Schröder der geschichtliche Auftrag.

Den zweiten Teil dieses Buches bilden die „Aufzeichnungen auf dem Bildschirm“. Sie werden hier nicht vollständig abgedruckt, was schon allein dadurch begründet ist, daß Texte aus ihnen bereits vorsichtig ausgegliedert und in den Romanteil eingefügt wurden. Zudem wäre die Edition der gesamten Tagebücher zu umfangreich geworden. Sie hätte den Rahmen dieses Buches gesprengt. Ich habe daher eine Auswahl getroffen, die die Grundidee und die wesentlichen Gedankenstränge in den „Aufzeichnungen“ herausstellt. Die Texte wurden in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung belassen, so daß der Tagebuchcharakter erhalten geblieben ist. Zu den Texten zählen auch Notizen über aktuelle Eindrücke.

Die Grundidee der „Aufzeichnungen“ besteht in der Bewältigung eines historischen Umbruchs im Sinne von „Perestroika“, die in „Katastroika“ mündete. Der Versuch einer Neuorientierung wird unternommen, verbunden mit der Suche nach einer sozialistischen Perspektive unter vollkommen neu-alten Bedingungen und Voraussetzungen. Ein dem „Gestrigen“ Verhafteter sucht nach einer Zukunftsperspektive. Das „Gestrige“ ist aber eigentlich das „Künftige“, jedoch die seit 1945 angenommenen Voraussetzungen dieses Künftigen gehören nun der Vergangenheit an. Indem der „ewig Gestrige“ in einer ihm „fremden“ Gegenwart nach künftigen Perspektiven für sich und die Gesellschaft sucht, bewältigt er produktiv im persönlichen und gesellschaftlichen Sinne diese „fremde“ Gegenwart. Hier berühren sich Ralf Schröders Intentionen mit denen des Schriftstellers Michail Bulgakow: Dieser fühlte sich nach dem Sieg der Bolschewiki als ehemaliger Weißer in seiner Gegenwart fremd. Er entschied sich aber gegen die Emigration und für ein Wirken als Schriftsteller in Sowjet-Rußland. Bulgakow erhoffte die evolutionäre Umgestaltung dieses Landes, an ihr wollte er mitwirken und dabei seine Perspektive einbringen. Ähnliche Ziele verfolgte auch Ralf Schröder mit der Arbeit an den „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ zur Bulgakow-Ausgabe, die er als „Flaschenpost für die Zukunft“ konzipiert hat. Aber sein politischer Ausgangspunkt ist ein „roter“, also dem Bulgakows diametral entgegengesetzter. Doch gerade dieser ehemalige Weiße Bulgakow ist es, der die Großinquisitorlüge des sozialistischen Großinquisitors Stalin in seinen Werken durchschaubar macht, deren Aufdeckung für eine marxistische Analyse der Epoche des sowjetischen Sozialismus und für einen sozialistischen Neubeginn unerläßlich ist.

Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Bulgakow wird auch der Hintersinn des Titels „Aufzeichnungen auf dem Bildschirm“ deutlich: Bulgakow schrieb „Aufzeichnungen auf Manschetten“. Der Hauptheld dieser Erzählung aus den Jahren 1921/22 benutzt Manschetten aus Pappe als Schreibpapier. Er tut dies nicht nur, um den Papiermangel in der Zeit des „Kriegskommunismus“ zu überbrücken, sondern auch, um seine Haltung zu demonstrieren, die die eines Ehemaligen ist, der seine aristokratischen Manieren im Rußland der Bolschewiki behaupten will. Ralf Schröder hingegen will zeigen, daß er nicht nostalgisch und rückwärtsgewandt ist: Für seine „Aufzeichnungen“ benutzt er sogar die neueste Errungenschaft der Technik, den „Bildschirm“, womit er den Computer meint.

Zwei Gedankenstränge durchziehen die gesamten „Aufzeichnungen“:

1. „Der Tausch“ – entlehnt ist dieser Begriff der Erzählung Trifonows „Der Tausch“ – der internationalistischen Ideale in nationale/nationalistische Positionen innerhalb der sozialistischen Bewegung. Dieser Tausch vollzog sich zeitlich versetzt auf zwei Ebenen:

a) Die europäischen sozialdemokratischen Parteien verraten nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges die internationalistischen Ideale der II. Internationale und schließen in ihren jeweiligen Ländern einen sogenannten Burgfrieden mit der Bourgeoisie.

b) Nachdem die sozialistische Revolution, die sich als Folge des Ersten Weltkrieges in Rußland ereignete, auf dieses eine Land beschränkt bleibt, kommt es auch hier zur Abkehr vom Internationalismus, zur Hinwendung zu nationalen/nationalistischen Positionen und zum „Sozialismus in einem Land“. Das leitet über zum zweiten Gedankenstrang:

2. Wie es durch die äußere Bedrohung, der sich die Russische Revolution permanent ausgesetzt sah, und die Isolierung der Sowjetunion notgedrungen zum Stalinschen „Sozialismus in einem Land“ kommen mußte. Dabei wird aber die Alternative herausgestellt, die die Möglichkeit der Überwindung und sozialistischen Bewältigung des Stalinschen Systems in sich barg. Diese Alternative ist für Ralf Schröder untrennbar mit Lew Dawidowitsch Trotzki und dem von diesem verfolgten Ziel der politischen Revolution gegen die stalinistische Bürokratie im Sinne der Wiederherstellung der Räte-Demokratie verbunden. Trotzki, den Ralf Schröder oftmals nur L. D. nennt (abgekürzt für Lew Dawidowitsch), wird man in diesem Buch immer wieder begegnen.

Die einzelnen Texte werden so editiert, daß ihr fragmentarischer Charakter betont wird. So wird bei jedem Text innerhalb des Romans angegeben, zu welchem Zeitpunkt er entstanden ist und welcher Datei er entstammt, z. B. den Dateien „das“, „Da“, „abjul“, „Dawai“, „MeinRomL“, um nur einige zu nennen. Ralf Schröder selbst hat die Möglichkeiten, die der Computer ihm beim Schreiben bot, als großen Vorzug empfunden; seine Arbeitsweise war durch den Computer geprägt, und er selbst verweist in seinen Texten immer wieder auf den Inhalt bestimmter Dateien.

Gerade im fragmentarischen Charakter der Texte liegt ein großer Reiz. In den Tagebuchaufzeichnungen, die Ralf Schröder nur für sich selbst und zu seiner Selbstverständigung schrieb, kommen seine Gedanken authentisch und unverfälscht zum Ausdruck. Ich nahm auch solche Texte in das Buch auf, in denen Gedanken nur stichpunktartig angedeutet sind. In diesem Falle war es meine Aufgabe, diese Gedankenbruchstücke durch entsprechende Anmerkungen zu erhellen. Dadurch wird es möglich sein, den Sinn auch dieser fragmentarischen Passagen zu erschließen und die in ihnen nur angedeuteten Gedanken selbst zu Ende zu denken. In den Anmerkungen wird außerdem das für die Lektüre notwendige Hintergrundwissen zur russischen und sowjetischen Literatur und Geschichte sowie zur DDR-Geschichte dargeboten.

In Zusammenhang mit dem fragmentarischen Charakter, der das gesamte Buch prägt, seien zwei Dinge angemerkt:

1. In den Romanteil wurden, wie bereits erwähnt, Texte aus den „Aufzeichnungen auf dem Bildschirm“ eingefügt, um somit die nicht ausgeführten Kapitel und Abschnitte des Romans zu „rekonstruieren“. Der Bezug zur unmittelbaren Schreibzeit ist in den Tagebuchaufzeichnungen naturgemäß besonders stark. So kommt es, daß der von der Romangliederung vorgegebene zeitliche Rahmen immer wieder gesprengt wird: z. B. enthalten Texte, die in jenen Kapiteln eingeordnet wurden, die der Zeit nach dem XX. Parteitag gewidmet sind, auch Reflexionen über die unmittelbare Gegenwart der Schreibzeit oder andere Zeitabschnitte. Den Leser erwarten keine vom Autor ausgeführten Kapitel. Selbst die bereits geschriebenen Kapitel wurden von Ralf Schröder nicht als endgültige Fassung angesehen. Er nannte sie „Halbfabrikate“. Und unter den Überschriften der ungeschriebenen Kapitel habe ich Texte versammelt, die Material zu den einzelnen Kapiteln darstellen bzw. Ralf Schröder bei der weiteren Schreibarbeit als Material hätten dienen können.

2. In den „Aufzeichnungen“ reagiert Ralf Schröder oftmals auf aktuelle Ereignisse. Der Tonfall ist hier polemisch, so manches Urteil mag überspitzt erscheinen. Diese Überspitzungen resultieren aber aus einer tiefen Verletztheit, die verständlich und nachvollziehbar ist, vor allen Dingen da, wo Ralf Schröder als Herausgeber der Bulgakow-Ausgabe seine marxistischen Positionen bei der Analyse der Werke Bulgakows vorgeworfen werden. Von einem slawistischen „Kollegen“ wurde ihm in einem großen deutschen Nachrichtenmagazin sogar zur Last gelegt, daß er selbst nach sieben Jahren Einzelhaft in Bautzen immer noch Marxist geblieben sei. An manchen Stellen hingegen kann ich die Überspitzungen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehen. Sie stellen die persönliche Meinung des Verfassers dar.

In das Buch aufgenommen wurden auch Texte, die auf Kassette aufgesprochen sind. Solch ein mündlicher, sehr persönlicher Text ist dem Buch auch vorangestellt: „Die Berührung“ aus dem Jahre 1981. Hier berichtet Ralf Schröder von einer Begebenheit, die er in seinem Roman nicht beschrieben hat: von seiner Verhaftung. Er hatte mit ihr bereits gerechnet, wurde dann aber, in eine Falle gelockt, von ihr überrascht. Er hatte den Parteiauftrag erhalten, an der Grenze der DDR zur ČSR eine Gruppe tschechoslowakischer Linguisten in Empfang zu nehmen. Man holte ihn am Abend des 7. September 1957 mit einem Auto ab, um ihn von Dresden nach Schmilka, wie es hieß, zu fahren. Während der Fahrt auf offener Landstraße zündete sich Ralf Schröder eine Zigarette an. Da wurde der Wagen plötzlich von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Autos gestoppt. Die Türen wurden aufgerissen, Ralf Schröder aus dem Wagen gezerrt. Die Zigarette schlug man ihm aus dem Mund. Bei ihrem Aufprall auf der Erde sprühte sie lauter kleine Funken. Zu Boden gerissen sah er, wie schwere Schaftstiefel die Glut der Zigarette fein säuberlich austraten.

Das Bild der glimmenden Zigarette, deren Glut funkensprühend erlischt, symbolisierte für Ralf Schröder den gewaltsamen Anbruch jener Dunkelheit, die ihn in den sieben Jahren Einzelzelle in Bautzen umfing.

Das Erlebnis seiner Verhaftung prägte in Ralf Schröder einen bedingten Reflex aus: Ich habe als Kind, da ich noch nichts von einer Haft wußte, miterlebt, wie mein Vater innerlich zusammenzuckte, wenn neben ihm auf der Straße plötzlich ein Auto anhielt. Erst später wurde mir dieses unverständliche Verhalten erklärlich.

Als Ralf Schröder am 15. April 2001 starb, ist bald nach seinem Tode die Nachricht verbreitet worden, daß er im Jahre 1970 eine Erklärung unterschrieb, die ihn zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit verpflichtete. Das Wort „verbreitet“ ist zu betonen, denn den Beschuldigungen, die nun folgten, haftet der Makel an, daß sie öffentlich erst nach dem Tode Ralf Schröders erhoben wurden, obwohl entsprechende Gerüchte schon zu seinen Lebzeiten kursierten.2 Der Beschuldigte selbst konnte auf die Vorwürfe nichts mehr erwidern. Auch wenn hier eingewendet werden kann, daß jene, die die Nachricht verbreiteten, zuerst Gewißheit darüber erlangen wollten, ob sich ihr Verdacht erhärtet, erscheint der Zeitpunkt der Verkündung der Nachricht nicht zufällig: Warum sind jene den Verdacht bestätigenden Staatssicherheitsakten, die vom Beginn der 90er Jahre bis zum Tode Ralf Schröders nicht bekannt gewesen sein sollen, nach dem 15.4.2001 so rasch zur Hand gewesen? Und aus welchen Quellen speisten sich dann vorher eigentlich die Gerüchte? Es stellt sich in der Tat die Frage: Wurde mit der Verbreitung der Nachricht von Ralf Schröders Kontakten zum MfS bis zu seinem Tode gewartet? Wenn dem so ist: Warum geschah das? Wollte man einer Auseinandersetzung mit ihm aus dem Wege gehen? Leicht ist es, einen Toten zu richten, denn dessen Schweigen ist gewiß. Schwer ist es für mich, in diesem Streit Stellung zu beziehen, denn da er erst eröffnet wurde, nachdem der Bezichtigte nicht mehr lebte, kann von Streit eigentlich nicht die Rede sein. Ich kann nicht für den Toten das Wort ergreifen, denn ich bin viel später geboren, lebe ein anderes, mein eigenes Leben. Auch verurteilen kann ich meinen Vater nicht, und dies nicht deshalb, weil ich sein Sohn, sondern weil ich der Meinung bin, daß man die Umstände berücksichtigen muß, die ihn offensichtlich dazu zwangen, sich zur Zusammenarbeit mit dem MfS bereit zu erklären. Seit seiner Verhaftung wurde Ralf Schröder von den Sicherheitsorganen der DDR massiv unter Druck gesetzt. Er selbst schreibt von einer erpresserischen Situation: Nach seiner Verurteilung im Jahre 1958 wurde ihm von einem Vernehmer der Staatssicherheit gesagt, er dürfe nie wieder als Literaturwissenschaftler arbeiten, weder schreiben noch Vorlesungen halten. Eine weitere Lehrtätigkeit als Dozent für russische und sowjetische Literatur war ihm damit verwehrt. In der Zeit nach der Haft war Ralf Schröder bis zum Beginn der 80er Jahre vorbestraft – er sagte damals dazu: „Ich bin noch nicht von der Verbrecherliste gestrichen.“ Daher war er keine vollwertige Rechtsperson. Jede Reise innerhalb der DDR konnte ihm untersagt, seine Berufserlaubnis als Lektor im Verlag Volk und Welt ihm jederzeit wieder entzogen werden. Er selbst wurde als ehemaliger politischer Häftling von der Staatssicherheit überwacht und fürchtete, daß man ihn erneut einsperren würde, denn er war ja nur „auf Bewährung“ entlassen: Das Gericht hatte ihn als den „Rädelsführer“ der „Schröder-Lucht-Gruppe“ zur Höchststrafe von zehn Jahren Einzelhaft verurteilt. In den politischen Prozessen der Jahre 1957/58 in der DDR hat ansonsten nur noch Wolfgang Harich ein derart hohes Strafmaß erhalten. Die Verkündung des Urteils erfolgte übrigens als eine Art besonderes Weihnachtsgeschenk an die Verurteilten und ihre Angehörigen am 23. Dezember 1958. Von den zehn Jahren verbüßte Ralf Schröder „nur“ sieben, weil er 1964 im Zuge einer allgemeinen Amnestie anläßlich des 15. Jahrestages der Gründung der DDR, ebenso wie Harich und andere politische Häftlinge, entlassen wurde. Der eigentliche Grund der Entlassung war jedoch das Ende des „Tauwetters“ in der Sowjetunion, das mit der Absetzung Chrustschows, ebenfalls 1964, besiegelt worden war: Von den Inhaftierten, die für ein „Tauwetter“ in der DDR eintraten, ging ab jetzt keine potentielle „Gefahr“ mehr aus. Die Entlassung „auf Bewährung“ bedeutete für Ralf Schröder, daß man ihm jederzeit damit drohen konnte, im Falle des „Sich-Nichtbewährens“ die Reststrafe absitzen zu müssen. Außerdem ist zu bedenken, daß es für Ralf Schröder, weil er für die sozialistische Alternative zum Kapitalismus eintrat, nicht in Frage kam, in den Westen zu gehen. Er wird also darauf bedacht gewesen sein, sich in der DDR eine legale Wirkungsmöglichkeit als Lektor im Verlag Volk und Welt zu erhalten. Dies und die erpresserische Situation, in der er sich befand, werden dazu geführt haben, daß er sich der Zusammenarbeit mit dem MfS nicht entziehen konnte. Dazu schreibt Fritz Mierau in seiner Autobiographie „Mein russisches Jahrhundert“ in dem Ralf Schröder gewidmeten Abschnitt des Kapitels „Willkommen in Utopia“:

„Fiel es mir als Parteilosem vergleichsweise leicht, die Anträge des MfS auszuschlagen, so war das für Ralf Schröder so gut wie unmöglich. Aus der Partei ausgeschlossen, nach sieben Jahren Haft bei den eigenen Genossen Kommunist geblieben und von der Korrekturfähigkeit der bisherigen sozialistischen Experimente überzeugt, hegte er zugleich keinerlei Illusionen über die Macht des MfS.“3

Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Ralf Schröder jemandem mit seinen Kontakten zur Staatssicherheit geschadet hat. In einer Akte des MfS, die eine Art Rechenschaftsbericht ist, heißt es, daß er „kaum operativ auswertbare Informationen“ geliefert hat.4 Und es liegen auch keine von ihm selbst verfaßten Berichte vor, sondern seine Aussagen stammen allesamt aus mündlichen Vernehmungen mit ihm, die von Mitarbeitern der Staatssicherheit in den Akten schriftlich festgehalten wurden.

Ralf Schröder äußert sich in seinem Roman nicht direkt über die Stasi-Problematik, deutet sie aber in einigen Textstellen an, und zwar dort, wo er von der erpresserischen Situation spricht, in der er sich befand, weil er nur „auf Bewährung“ entlassen worden war und ihm daher mit Berufsverbot und erneuter Haft gedroht werden konnte. So z. B. im Entwurf eines Briefes an Fritz Mierau aus dem Sommer 2000, der als Material zum Roman Eingang in dieses Buch fand. Er schreibt hier, daß es für ihn ein großes Ereignis war, als Fritz Mierau 1974 in einem Nachwort Trotzki erstmals beim Namen nannte, etwas, das er sich niemals hätte erlauben können:

„Gerichtsnotorisch als Trotzkist abgestempelt und nur ‚auf Bewährung‘ vorzeitig entlassen, war es schon bei selbst nur indirekten Anspielungen auf Trotzkis Erklärung des zeitweiligen Triumphs des Stalinismus sowie dessen historischer Überwindbarkeit (in der schnell zurückgezogenen 1. Auflage des 2. Bandes der Aitmatow-Ausgabe) möglich, daß ich ohne weiteres Gerichtsverfahren wieder aus dem Verkehr gezogen worden wäre. Das hieße: Keine Vorlesungen mehr, keine neuen Nachworte. Erneut gab es notwendige Verhandlungen und ‚bewußte Fehler‘ in meinem ‚Roman der Geschichte und der Literatur‘.“

Der Sinn dieses Buches besteht darin, daß sein Verfasser zu Wort kommt, und nicht darin, eine Debatte über den Verfasser zu führen. Sonst könnte es leicht passieren, daß Ralf Schröder, den man zu Lebzeiten so oft mundtot gemacht hat, auch nach seinem Tode zum Schweigen gebracht wird.

Wenn man dazu bereit ist, Ralf Schröders Worte und Gedanken in sich aufzunehmen, wird sich einem in diesem Buch eine einmalige Sicht auf die Geschichte, nicht nur der russischen und sowjetischen Literatur, sondern auch der Sowjetunion und der DDR erschließen. Und diese Sicht ist nicht theoretisch abstrakt, sie ist erlitten. Persönliche und historische Niederlagen ließen Ralf Schröder nicht verbittern, sie vertieften vielmehr seine Einsichten, hielten ihn dazu an, den zurückgelegten Weg selbstkritisch zu überprüfen und sich für Neues zu öffnen. Bis zu seinem Tode ist Ralf Schröder nicht verstummt. Sein Wort soll in diesem Buch lebendig werden:

„Es brannte das Verbrannte wieder auf …“

Berlin, den 25. April 2011, Ostermontag                                            Michael Leetz

(In: Ralf Schröder, Unaufhörlicher Anfang, S. 7-23)

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Anmerkungen

  1. Hier sei darauf verwiesen, wo das Kapitel „Der Großinquisitor außerhalb der Legende“ erschienen ist: Ilja Ehrenburg: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito. – Malik-Verlag, Berlin 1930, S. 281-288. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Kapitel auf deutsch nur in der Bundesrepublik in den folgenden Ausgaben erschienen: Ilja Ehrenburg: Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito. – Kindler, München 1967, S. 236-243; sowie in: Bibliothek Suhrkamp. Band 455. Frankfurt a. M. 1976 (Nachauflage 1990), S. 236-243.
  2. Zur Existenz dieser Gerüchte vergleiche Leonhard Kossuth: Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. – NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide, Berlin 2002, S. 248.
  3. Siehe Fritz Mierau: Mein russisches Jahrhundert. – Edition Nautilus, Hamburg 2002, S. 232.
  4. Siehe ebenda, S. 233.