Ralf Schröder: Literaturgeschichtliche Anmerkungen zu Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ (1994)
Michail Bulgakow (1891–1940) ging erst siebenundzwanzig Jahre nach seinem Tod in die Weltliteratur ein. Sein großer Nachlaßroman „Der Meister und Margarita“, an dem der Schriftsteller von 1928 bis zu seinen letzten Lebenstagen gearbeitet hatte, erschien erstmals 1966/67 in der sowjetischen Literaturzeitschrift „Moskwa“. Das war eine zeitgeschichtliche literarische und zugleich politische Sensation. Völlig unerwartet tauchte aus verdrängter Vergangenheit eine neue Menschheitsdichtung auf, die von den Widersprüchen des sowjetischen Staatssozialismus unter Stalin ausging und in der Reihe solcher Werke wie Goethes „Faust“, Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ und Thomas Manns erst nach Bulgakows Tod entstandenem Roman „Doktor Faustus“ angesiedelt ist. Und das Licht des neuentdeckten „Fixsterns“ in diesem weltliterarischen Planetensystem barg zugleich einen fundamentalen ideologischen Sprengstoff angesichts des damaligen geistigen Aufbruchs nach dem sowjetischen „Tauwetter“, der Kritik an der „Magie des Personenkults“ und an Stalins Gewaltmethoden auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken: In der Sowjetunion der dreißiger Jahre wurde versucht, den großen Terror unter Stalin auch durch eine der Staatsraison angepaßte und zum Dogma erhobene Interpretation von Goethes „Faust“ zu rechtfertigen. Mephistophelische Gewalt und Magie seien unumgänglich, um zum „freien Grund“ und „freien Volk“ gelangen zu können. Bulgakows Werk gestaltet dagegen – was damals zu vielfältigen, oft gegensätzlichen Irritationen in Ost und West führte –, daß solch ein Goethe verfälschender Rückgriff auf den Modellfall des „Faust“ im Nichts enden müsse, daß „von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt geschehe“ und dennoch „eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand die Macht hat“, wie es Jeschua, die Jesusgestalt in dem Roman, prophezeit: „Der Mensch wird eingehen in das Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit, wo es keiner Macht mehr bedarf.“
Unverkennbar war trotz aller Polemik Bulgakows gegen den historischen Materialismus die Analogie dieser Vision zum Ideal, dem „Endziel“ des „Kommunistischen Manifests“ von Karl Marx und Friedrich Engels1, der Aufhebung des Staates durch eine „freie Assoziation der Produzenten“, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ sein müsse. Aber die Voraussetzung für die Aufhebung des Staates sieht der Autor von „Der Meister und Margarita“ im Gegensatz zur Praxis des Staatssozialismus allein in der Verbreitung der Einsicht, daß die Menschen aller Gewaltmethoden entsagen und nach der urchristlichen Ethik Jeschuas leben könnten.
I
Siebenundzwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung von „Der Meister und Margarita“ ist das tagespolitisch Sensationelle, das der Roman 1967 zeitigte, durch die folgende weltpolitische Entwicklung endgültig aufgehoben. Bulgakow, der sich selbst in seinem berühmten Brief „An die Regierung der UdSSR“ vom 28. März 1930 einen „mystischen Schriftsteller“ nannte, erscheint rückblickend als ein poetischer Prophet, der die Implosion des sowjetischen Systems stalinscher Prägung vorausgesagt hat. Aber damit erschöpft sich die Bedeutung seines Werkes keineswegs. Im Gegenteil, das Interesse an dem Geheimnis dieses „mystischen Schriftstellers“ und an dem Roman als einer neuen Menschheitsdichtung, die immer wieder auf neue Weise zukunftswichtig wird, wächst weiter an, da sie Gesellschaftssysteme übergreifende „ewige Fragen“ der Geschichte neu stellt. Das bedeutet jedoch nicht etwa eine Enthistorisierung Bulgakows. Die einzigartige „Auferstehung“ des Romans und seines Autors erschließt sich nur aus dem ungewöhnlichen zeitgeschichtlichen Schicksal Bulgakows in zwei tragischen welthistorischen Zwischenzeiten.
Zunächst waren es die Erfahrungen des Bürgerkriegs, die Bulgakow von einem militanten Anhänger der Weißen Konterrevolution zu einem nach Aussöhnung der feindlichen Brüder strebenden Pazifisten reifen ließen. Diese Erfahrung bestimmte grundlegend Bulgakows poetisches Weltbild. Nach diesem maß er auch die folgende, langwährende stalinistische Zwischenzeit, die ihn mit seiner humanistischen Mission ins Abseits drängte und zwang, mit „Der Meister und Margarita“ jene neue Form einer Menschheitsdichtung zu entwickeln, die als eine poetische Flaschenpost die Nachwelt erreichte.
Die Romanidee keimte in Bulgakow offenbar Anfang 1925 auf, als er mit der Erzählung „Hundeherz“ die Vorgeschichte des späteren Romanthemas abschloß. Bulgakow befand sich bereits damals in einer Situation tagespolitischer Ohnmacht gegenüber dem objektiven Gang der Ereignisse. Aber zugleich war sein Selbstbewußtsein als der „nicht zeitgemäße“ Schriftsteller gewachsen, nachdem das erste Drittel seines Romans „Die weiße Garde“ in der Zeitschrift „Rossija“ erschienen war und auch seine bedeutendste Früherzählung des Zyklus „Teufeliaden“, „Die verhängnisvollen Eier“, gedruckt vorlag, die schon vor „Hundeherz“ künftige Tragödien des sowjetischen Gesellschaftsexperiments im internationalen Spannungsfeld prognostizierte.2
Auf diese beiden Komponenten der Genesis von Bulgakows späterem Vermächtniswerk weist eine auffällige Reihung von diesbezüglichen Motiven in Bulgakows „Tagebüchern“, besonders denen vom Dezember 1924 und vom Januar 1925.3
Kernpunkt der Notizen sind immer wieder die Beschreibung der Versuche des Schriftstellers, dem dominierenden Zeitgeist in der Literatur entgegenzuwirken und das Scheitern dieser Versuche. So notiert Bulgakow am 26. Dezember 1924: „Es gab wie jetzt allenthalben Gespräche über die Zensur, Angriffe auf sie, ‚Gespräche über die Wahrheit und die Lüge des Schriftstellers‘ … Ich konnte mir nicht verkneifen, mich ein paarmal einzumischen und zu sagen, daß es heutzutage schwer sei zu arbeiten, griff auch die Zensur an und sagte manches, was ich besser nicht gesagt hätte. Ljaschko, dieser proletarische Schriftsteller, der eine unüberwindliche Antipathie gegen mich hegt (Instinkt), widersprach mir mit kaum verhohlener Gereiztheit: ‚Ich verstehe nicht, von was für einer Wahrheit Genosse Bulgakow spricht. Wozu soll man alles darstellen? Man darf den Leuten nicht alles auf die Nase binden usw.‘ Als ich dann sagte, die gegenwärtige Epoche sei eine Epoche der Gemeinheiten, erwiderte er haßerfüllt: ‚Sie reden Blödsinn.‘ Ich konnte auf diesen familiären Satz nichts antworten, denn in diesem Moment wurde vom Tisch aufgestanden. Vor den Flegeln gibt es keine Rettung.“ Und in der Nacht vom 28. Dezember 1924 resümiert Bulgakow, nachdem er in den damals berühmten Schriftstellerlesungen, „Nikitina-Sonnabende“, seine Erzählung „Die verhängnisvollen Eier“ vorgestellt hatte: „Als ich hinging, hatte ich den kindlichen Wunsch, mich hervorzutun und zu glänzen, doch auf dem Rückweg hatte ich komplizierte Gefühle. Was ist das? Ein Feuilleton? Oder eine Frechheit? Vielleicht auch was Ernstes? Dann ist es nicht gar gebacken. Jedenfalls saßen dort an die dreißig Leute, und keiner von ihnen war Schriftsteller, und keiner hatte einen Begriff davon, was die russische Literatur ist. Ich fürchte, sie könnten mich für meine Heldentaten ‚in nicht sehr entlegene Gegenden‘ verbannen … Politische Neuigkeiten gibt es heute nicht für mich. Diese ‚Nikitina-Sonnabende‘ sind ein muffiger, sklavischer, sowjetischer Lumpenkram.“
Solche öffentlichen Konfrontationen waren in den zwanziger Jahren noch möglich. Und Bulgakow suchte sie in der Hoffnung, den „Zeitgeist“ verändern zu können. Hilfesuchend richtete er seinen Blick in den Himmel: „Als ich am Kreml vorbeiging, blickte ich nach oben, blieb stehen, betrachtete den Kreml und dachte eben: Wie lange noch, Herr?“ („Tagebuch“ in der Nacht vom 2. zum 3. Januar 1925) Der Himmel gab keine Antwort. Aber Bulgakow hörte die Stimmen von Gleichgesinnten: „‚Wie soll das alles enden?‘ fragte mich heute ein Freund. Solche Fragen werden stumpf, mechanisch, hoffnungslos, gleichgültig und sonst noch wie gestellt. In seiner Wohnung im Zimmer gegenüber hielten gerade Kommunisten ein Saufgelage ab (…) Sie hatten ihn eingeladen, und er konnte nicht ablehnen. Mit höflichem, schmeichelndem Lächeln ging er immer wieder zu ihnen ins Zimmer, wenn sie ihn riefen. Dann kam er zurück und schmähte sie flüsternd. Ja, irgendwie wird das alles enden. Ich glaube daran.“ („Tagebuch“ vom 5. Januar 1925)
Bulgakow sucht eine Antwort auf die Frage „Wie lange noch?“ in der Analyse des sittlichen Zustands des Zeitgeistes und der Gesellschaft. Er will der Sache auf den Grund gehen. Welche ethischen Prinzipien gelten? Gleich nach der eben angeführten Tagebuchnotiz beschreibt Bulgakow seinen Besuch bei der Zeitschrift „Der Gottlose“: „Bei mir war M. S.4, und er bezauberte mich von Anfang an. ‚Werden Ihnen nicht die Fenster eingeschlagen?‘ fragte er das erste Fräulein, das am Schreibtisch saß. ‚Wie meinen Sie?‘ (Verwirrt.) ‚Nein, sie werden nicht.‘ (Drohend.) ‚Schade.‘ Ich hätte ihn am liebsten auf seine jüdische Nase geküßt. Es stellte sich heraus, der Jahrgang 1923 ist nicht zu haben. Vergriffen, sagen sie stolz. Es gelang mir, elf Nummern von 1924 zu bekommen, die zwölfte war noch nicht raus … Die Auflage beträgt 70 000 und geht weg. In der Redaktion sitzen unglaubliche Halunken, es herrscht ein Kommen und Gehen, eine kleine Bühne, Vorhänge, Dekorationen. Auf einem Tisch auf der Bühne liegt ein heiliges Buch, vielleicht die Bibel, darüber beugen sich zwei Köpfe. ‚Wie in der Synagoge‘ sagte M. S., als wir gingen. Mich interessiert sehr, inwieweit das speziell zu mir gesagt war. Man darf natürlich nicht übertreiben, aber ich habe den Eindruck, daß ein paar Leute, die die ‚Weiße Garde‘ in ‚Rossija‘ gelesen haben, anders mit mir reden, in einer Art furchtsamem, mißtrauischem Respekt … Als ich abends zu Hause flüchtig die Nummern des ‚Gottlosen‘ durchsah, war ich erschüttert. Es geht nicht um die Lästerungen, die natürlich maßlos sind, wenn man es von außen betrachtet. Es geht um die Idee, man kann sie dokumentarisch beweisen – Jesus Christus wird als Unhold und Spitzbube dargestellt. Dieses Verbrechen ist beispiellos.“5
Bulgakow beschließt seinen Bericht über die „Gottlosen“ mit der Drohung: „Die Eule nehme ich mir noch vor.“
Mit dieser Redewendung beschreibt Bulgakow in „Hundeherz“ einen instinktiven Drang, etwas so zu vernichten, daß die Fetzen fliegen. Aber offenbar wußte Bulgakow 1925 noch nicht genau, wie er das bewerkstelligen sollte. Wahrscheinlich steht das gesondert herausgestellte Tagebuchresümee vom 25. Februar 1925 in diesem Zusammenhang: „Vor mir liegt ein unlösbares Problem. Das ist alles.“
Dem Autor des „Tagebuches“ hatte sich bereits offenbart, daß seine Lösung der Zeitprobleme in „Hundeherz“ nicht den Realitäten entsprach. Dort hatte er noch dargestellt, daß die „Flegel“, die die Revolution emporgespült hatte und die sich als Sprachrohre des „Zeitgeistes“ posierten, entmachtet, „zurückoperiert“ werden könnten.
Mit dieser Wunschlösung folgte Bulgakow dem Kunstgeist Gogols, daß selbst eine Nase, die sich verselbständigt hatte und zum Staatsrat avanciert war, letztlich wieder zurück an ihren angestammten Platz müsse. Mit der Beschwörung dieser Tradition Gogols hatte Bulgakow von den „Aufzeichnungen auf Manschetten“ (1921/22) bis „Hundeherz“ Wirren und Machtumschichtungen, die sich später als Genesis des stalinistischen Systems entpuppen sollten, literarisch zu bannen versucht.6
II
Die neue Romanidee, die noch ungelösten Probleme, erforderten, daß Bulgakow den Kanon seines geliebten Kunstgeistes Gogols sprengte. Er hatte es schon in dem Bürgerkriegsroman „Die weiße Garde“ (1923/24) und dessen Dramatisierung in drei Varianten 1925/26 getan. Zwar betonte er dort nach wie vor, „Rußland wird immer Rußland bleiben“, aber dennoch könne nach den gewaltigen revolutionären Umwälzungen nicht alles an den alten Platz gerückt werden.7 Der „geborstene schwarze Himmel“ gibt den Turbins, den autobiographischen Helden Bulgakows, im Bürgerkrieg „keine Antwort“, aber der Autor empfiehlt als mystischen Ausweg trotz alledem den Blick nach oben, auf die Sterne, die Zukunft zu richten, denn diese werden noch leuchten, wenn alle und alles vergangen sind. Und er verheißt, jeder wird gerichtet werden nach seinen Taten, wie es im Evangelium verkündet wird.8
Entsprechend dem Matthäus-Evangelium motiviert Bulgakow bereits in „Die weiße Garde“ rückblickend den Zusammenbruch der Weißen Bewegung, wie er später in „Der Meister und Margarita“ das unausbleibliche Ende des stalinistischen Systems prognostizieren sollte: „Ein jegliches Reich, so es mit sich uneins wird, wird wüst; und eine jegliche Stadt oder Haus, so es mit sich selbst uneins wird, kann‘s nicht bestehen“, was vor allem für jene gilt, die „den Teufel durch Beelzebub“ auszutreiben versuchen. Alexej Turbin, der stark autobiographische Held der „Weißen Garde“, wird uneins mit sich selbst, als er sieht, daß sich seine Ideale, für die er als Weißer zu kämpfen glaubte, realgeschichtlich ins Gegenteil verkehrt haben. Sein Alpgespenst, sein zweites Ich, – im Fieber phantasiert er das berühmte Teufelsgespräch des „Russischen Faust“ Iwan Karamasow aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ nach – enthüllt ihm die bittere Wahrheit: Die Weißen, die vorgeben, christliche Wahrheit und Gerechtigkeit zu verteidigen, wurden zu „Teufelspuppen“. Und Dostojewskis „Gottesträger“, das russische Bauernvolk, stützt die Bolschewiki, da diese damals allein ihre Interessen verfochten. Alexej Turbin gelangt nach diesem Alptraum zu seinem „Prophetischen Traum“, der den Ausgangspunkt Bulgakows als „mystischen Schriftsteller“ manifestieren sollte. Turbin sieht Anfang 1919 die gefallenen Weißen und Roten des noch nicht ausgefochtenen „letzten Gefechts“ des Bürgerkriegs, der Schlacht bei Perekop 1920, gemeinsam ins Paradies einziehen.9
Noch tiefgründiger hat Bulgakow die menschheitsgeschichtlichen Grundfragen des späteren Romans „Der Meister und Margarita“ in den „Acht Träumen“ des Schauspiels „Die Flucht“ (1926–1928, russisch „Beg“, was zugleich auch der „Lauf“ im Sinne von der „Lauf des Lebens“ bedeutet) vormodelliert. Der Weiße General Chludow10 versuchte 1920, mit totalem Terror die Erstürmung der Krim durch die Rote Armee aufzuhalten. Als ein Heiliger Georg wurde er von der zaristischen Staatskirche gepriesen. Aber Bulgakow zeigt ihn als einen neuen Pilatus, der den Soldaten Krapilin, der es wagte, die Wahrheit zu sagen und dem General seine Untaten vorzuhalten, aus zaristischer Traditionsgebundenheit wider besserer Einsichten hängen ließ. Als sein Alpgespenst, sein schlechtes Gewissen verfolgt den General Chludow seitdem der tote Krapilin, bis der Sünder den Weg zu seinem Opfer, zur Sühne findet – etwa wie der Pilatus in „Der Meister und Margarita“ erst erlöst werden kann, als er bereit ist, das Grundsatzgespräch über den Menschen und das Menschliche mit Jeschua, den er den Geboten einer cäsaristischen Staatsraison ebenfalls wider besseres Wissen geopfert hatte, neu zu beginnen.
In den Jahren 1926 bis 1928 hat also Bulgakow das Grundthema seines späteren Romans „Der Meister und Margarita“ am Modellfall Chludow weiter ausgelotet. Und in dem Motto, das Bulgakow dem Stück voranstellte, sowie in der Ballade vom reumütigen Räuber Kudejar, die das Finale des Stückes verallgemeinert, werden direkt zwei Hauptmotive des späteren Romans vorweggenommen. Als Motto stehen Wassili Shukowskis Verse: „Unsterblichkeit, du stilles, lichtes Ufer. / Nur dir allein gilt unser Streben ganz. / Drum ruh, wer seines Lebens Lauf beendet.“ Angesprochen wird die Sehnsucht nach einem erfüllten Kämpferleben, die sich in der phantastischen Romanebene von „Der Meister und Margarita“ für den Meister vollenden sollte, der sein großes Werk vollbracht hatte. Der legendäre Ataman Kudejar hatte wie Chludow mit seinen zwölf Räuber-Aposteln „viel unschuldiges Christenblut“ vergossen. Und das bewirkte letztlich seine christliche Einkehr. Der Gewissensentscheid von Bulgakows späteren Romangestalten Pilatus, der Jeschua kreuzigen ließ, und Iwan Hauslos, der den Propheten der Wahrheit und Gerechtigkeit literarisch zu töten versucht hatte, wird bereits balladenhaft verfremdet als das aufzulösende Problem zum Triumph des Reinmenschlichen gesetzt.11
III
Bulgakow konnte seine literarische Abrechnung mit dem „Gottlosen“ als dem symbolischen Bezugspunkt für den sittlichen Zustand und die Perspektive der Gesellschaft erst beginnen, nachdem er sein Thema der „Weißen Garde“ mit den Stücken „Die Tage der Turbins“ (1925/ 1926) und „Die Flucht“ (1926–1928) abgeschlossen hatte.12 Und ohne die Erfahrung dieser Werke ist „Der Meister und Margarita“ undenkbar. Aber entscheidend für den Beginn der Arbeit am Roman war, daß sich die Widersprüche, die Bulgakow schon 1925 dazu drängten, sich „die Eule“ noch vorzunehmen, 1928/29 unheimlich verschärft hatten. Als Autor der Erfolgsstücke „Die Tage der Turbins“, „Sojas Wohnung“ und „Die Purpurinsel“ hatte Bulgakow die damalige Moskauer Theaterwelt erobert. Zugleich setzte eine hemmungslose Vernichtungskampagne der siegesbewußten „Flegel“, der damals dominierenden sektiererisch-dogmatischen Schriftstellerorganisation RAPP (Russische Assoziation Proletarischer Schriftsteller), gegen die „Bulgakowerei“ ein. Diese führte im Sog von Stalins Kurswechsel gegen „Rechtsabweichler“ nach der Zerschlagung der Linksopposition innerhalb der Partei Ende 1927 dazu, daß Anfang 1929 alle Stücke Bulgakows verboten wurden, einschließlich des bereits zur Aufführung im Moskauer Künstlertheater angenommenen Stückes „Die Flucht“. Der Hauptgrund dafür war die Parabelhaftigkeit der Chludow-Geschichte im Sinne der Pilatus-Vision des späteren Romans „Der Meister und Margarita“.13
Valentin Katajew, der Bulgakow in den zwanziger Jahren sehr nahe stand, hat mir Ende der sechziger Jahre in seiner ironisch-anekdotenhaften Art erklärt, „Der Meister und Margarita“ sei nach Freud leicht zu interpretieren. Bulgakow habe solch eine Wut auf seine Kritiker und Zensoren gehabt, daß er ihnen wenigstens die Fenster einzuschmeißen wünschte und sich in seiner Ohnmacht ausdachte, er könne dies mit Teufelshilfe erreichen, so etwa wie in der Geschichte Teufelsbeschwörungen immer wieder aus endloser Verzweiflung eines verkannten Genies über die Ungerechtigkeit Gottes und der Menschen resultierten.
Katajew hat gewiß ein Motiv Bulgakows angesprochen. Davon zeugen Bulgakows Wunsch im Januar 1925, die vergitterten Fenster der Redaktion des „Gottlosen“ einzuwerfen und die Darstellung im Roman, wie Margarita als rächende Hexe über den Arbat fliegt und die Wohnung Latunskis, des Erzfeindes ihres Meisters, zertrümmert. Aber die „Teufelsbeschwörung“ in „Der Meister und Margarita“ ist dennoch prinzipiell ein poetischer Kunstgriff, der in der Tradition von Goethes Lösung des Verhältnisses von Aberglaube und Poesie angesiedelt ist: „Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens. Beide erfinden eingebildete Wesen … Dem Poeten schadet der Aberglaube nicht, weil er seinen Halbwahn, dem er nur mentale Gültigkeit verleiht, mehrseitig zugute machen kann.“ Voland, seine Suite und seine Zaubermacht haben in Bulgakows Roman nur mentale Gültigkeit, und der Schriftsteller macht sich seinen Halbwahn mehrseitig zugute.
Zunächst führt Voland den beiden literarischen Jesustötern aus der Gilde des „Gottlosen“, Berlioz und Iwan Besdomny (Hauslos), als Vision die Jesus-Pilatus-Geschichte vor, wie sie seiner Meinung nach als transzendentaler Augenzeuge entgegen den späteren Legenden der biblischen Apostel tatsächlich abgelaufen sei. Es gibt keine göttliche Vorbestimmung des Kreuzestodes Jesu zur Entsühnung der Menschheit und keine Auferstehung. Ein einsamer Prophet der unzeitgemäßen Wahrheit und Gerechtigkeit wird ein Opfer des Cäsarismus im „I. Rom“ in unverkennbarer Analogie zum Schicksal des Meisters im „III. Rom“, dem Moskau Stalins. Und dieses „Voland-Evangelium“ der ersten Romanfassungen14 erweist sich in den letzten Fassungen von „Der Meister und Margarita“ als identisch mit dem Pilatus-Roman des Meisters, d. h. mit dem neuen Evangelium, das Bulgakow als poetischer Messias seiner Zeit verkündete. Gleichzeitig entlarvt Voland als transzendentaler Kenner der Zukunft den voluntaristischen Prädestinationsglauben stalinistischer Planwirtschaft, indem er Berlioz voraussagt, daß dieser nicht einmal sein eigenes Schicksal voraussehen könne, daß eine Komsomolzin – eine Straßenbahnfahrerin – ihn köpfen werde. Nach Zeugnissen von Zeitgenossen war einer der Prototypen des Berlioz der Generalsekretär der RAPP, Leopold Awerbach (1903–1939), der sich Ende der zwanziger Jahre zum Diktator der offiziellen literarischen Meinung aufgeschwungen hatte und besonders auch Bulgakow verfolgte, aber Ende der dreißiger Jahre ein Opfer des Terrors Stalins gegen „Abweichler“ von seiner „Generallinie“ wurde.15
Schließlich entlarvt Voland die stalinistische Propagandathese vom „Sieg des Sozialismus an allen Fronten“ durch seinen Varieté-Test „Die schwarze Magie und ihre Entlarvung“, eine „Teufeliade“ im Geiste von Bulgakows Früherzählungen, der Vorgeschichte von „Der Meister und Margarita“: Die Moskauer haben sich eigentlich nicht verändert, sie sind geldgierig wie früher, nur die Wohnungsfrage hat sie zusätzlich verdorben. Von dem gepriesenen „neuen Menschen“ kann generell keine Rede sein.
In einem Brief an seine Frau Jelena Sergejewna Bulgakowa vom 4. Oktober 1938 hat Bulgakow, als er die erste Endfassung des Romans seiner Schwägerin in die Schreibmaschine diktierte, erläutert, daß er mit dem Roman einen „Gefechtsturm“ vergleichsweise dem E.T.A. Hoffmanns gefunden habe, von dem er die Generalabrechnung mit der zeitgenössischen Wirklichkeit bewerkstelligen könne.16 Dieser „Gefechtsturm“ Bulgakows ist der transzendentale Blickpunkt Volands.
Jelena Sergejewna Bulgakowa, die letzte Ehefrau und Nachlaßverwalterin Bulgakows, berichtet in ihren Tagebüchern, ihr Mann habe wiederholt betont, Voland habe keinen Prototypen.17 Und nach Erscheinen des Romans verbreitete sie eine – wahrscheinlich fiktive – Briefrezension zu „Der Meister und Margarita“, in der es heißt: „Satan reißt alle und jegliche Masken herunter.18 Satan ist nicht ein Beschützer, sondern ein Provokateur des Bösen – ein transzendentaler Julio Jurenito … Er führt das Böse bis zum Absurden, bis zum Äußersten, wo es sich selbst entlarvt, wo es unter der eigenen Last zusammenstürzt.“
IV
Zwischen dieser literarischen Funktion Volands als „Gefechtsturm“ Bulgakows und seiner Benennung im Roman besteht offenbar ein Widerspruch. Voland nannte sich Goethes Mephisto in der Walpurgisnacht, als selbst ihm der Hexensabbat zu bunt wird und er mit den Worten: „Platz! Junker Voland kommt. Platz! Süßer Pöbel, Platz!“ droht, von seinem „Hausrecht“ Gebrauch zu machen. Und auch das Romanmotto Bulgakows weist auf Goethes Mephisto: „Nun gut, wer bist du denn? – Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Aber Bulgakows Voland ist offensichtlich nicht ein Unterteufel wie Goethes Mephisto, kein Teil „von jener Kraft“, sondern der Satan selbst. Voland inspiziert, um zu ernten, was der revolutionäre Russische Faust und Mephisto angerichtet haben. Die Welt ist zum Teufel, und Voland kann sein „Hausrecht“ daher gebrauchen. Und dadurch schafft er im Goetheschen Sinne Gutes. Aber im Weltbild des Romans hat Voland eine unabdingbare, gleichberechtigte Funktion neben dem göttlichen Prinzip zur Aufrechterhaltung des Lebens, eben jene Funktion, die Bulgakow seiner Dichtung als Korrektur der Verderben bringenden Lebensläufe beimaß.
Die Rolle eines rächenden Volands, der das Gleichgewicht der Gesellschaft wiederherstellt, die „toten Seelen“ aufspürt und vernichtet, hatte Bulgakow bereits in der Erzählung „Die Abenteuer Tschitschikows“ (1922) selbst übernommen. Aber der Zyklus „Teufeliaden“, zu dem diese Erzählung gehört, geht als Ganzes von dem traditionellen Verhältnis zwischen dem revolutionären Russischen Faust und Mephisto aus, das sich seit Dostojewski in der russischen Literatur herausgebildet hatte: Der Russische Mephisto will, wie der Teufel Iwan Karamasows sagt, im Gegensatz zu dem Goethes Gutes, aber es kommt Böses heraus.19
Die verschiedenartigen „Teufeliaden“ gewinnen erst durch diesen indirekten Bezug auf die russische Revolutions- und Literaturgeschichte einen überschaubaren Rahmen.
Auch in „Der Meister und Margarita“ ist Ausgangspunkt der Volandiade ein Motiv Dostojewskis, die Wlas-Geschichte aus dem „Tagebuch eines Schriftstellers“ von 1873. Dort hatte Dostojewski die Versuchung eines „Russischen Mephistopheles“ beschrieben, der einen naiven Bauernburschen veranlaßte, auf die Osterhostie, den symbolischen Leib Christi, zu schießen. Als er es tat, erschien ihm visionär die Gestalt des Heilands und seitdem wurde er zum christlichen Büßer und Propheten.20
Bulgakow läßt auch – ähnlich wie Dostojewski in der Wlas-Vision – im Vagen, ob Iwan Hauslos das Voland-Evangelium nur geträumt oder tatsächlich vorgeführt bekommen hat.21
Bulgakow hatte seine eigenen geträumten Visionen alptraumhafter Realitäten, deren realgeschichtliches Ende noch nicht abzusehen war, exemplarisch in Szene zu setzen. Dieser Romangegenstand allein bedingte schon, daß seine neue Menschheitsdichtung vieles im Vagen lassen mußte. Und Bulgakow kannte auch die Gefahr, sich dabei im Vagen zu verlieren, noch genereller, als es Goethe empfand, dem sich dieses Problem erst bei der Gestaltung der phantastischen Schlußszenen von „Faust II“ stellte. Am 6. Juni 1831 erläuterte Goethe im Gespräch mit Eckermann seine diesbezüglich künstlerischen Intuitionen und Lösungsversuche: „Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß schwer zu machen war und daß ich bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.“
Goethe gestaltete eine in Westeuropa im wesentlichen abgeschlossene geschichtliche Entwicklung, im äußeren Vorgang den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, im inneren das Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons. Die Faust-Fabel bot ihm dafür einen adäquaten, den Stoff organisierenden Rahmen. Wie es danach mit der menschlichen Selbstverwirklichung, dem Weg „der geretteten Seele nach oben“, weitergehen sollte, darzustellen, erforderte die Rezeption vorgegebener christlich-kirchlicher Mystik. Bulgakow fand „eine wohltätig beschränkende Form“, um das noch völlig ungewisse Ende seiner Epoche literarisch antizipieren zu können, indem er aus Elementen vertrauter Bilder und Vorstellungen mittelalterlicher Dämonologie, biblischer und apokrypher Legenden sowie von früheren Faust-Werken die Geschichte vom alljährlichen Frühlingsball des Satans als Grundlage der Romanfabel entwickelte.22 Diese Fabel bot Bulgakow die Möglichkeit, seine Abrechnung mit der „Eule“ auf allen ihm wichtigen Ebenen als Lehrstückparabel literarisch auszuleben, ohne sich in unkünstlerischer Unendlichkeit tagespolitisch-feuilletonistischer Attacken zu verzetteln. Neben dem „Voland-Evangelium“ bzw. dem Pilatus-Roman des Meisters als Antwort auf den „Gottlosen“ als Grundmodell des Menschheitsschicksals in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft fügen sich als organische Bestandteile dieser Menschheitsdichtung: Die „Zurücknahme“ des voluntaristischen Russischen Faust (Berlioz), die Demaskierung der damaligen Moskauer Schickeria, die Niederbrennung ihrer fragwürdigen Hochburgen, der Weg der Margarita durch Höllenkreise aus Liebe23, die Vollendung des Meisters, seine humanistische Auflösung der Pilatus-Frage, die kathartische Wirkung seiner Tragödie, die in Analogie zu der des Jeschua gesetzt ist, auf Iwan Hauslos, den Rußland symbolisierenden Iwan-Dummkopf, der seinen Irrweg als ein Adept eines Russischen Mephistopheles begann, aber dann zunächst erahnte und schließlich nach dem spontanen Rückgriff auf Kerze und Ikone zu begreifen beginnt, daß die Pilatus-Geschichte seine Schicksalsfrage ist. Das war sie auch für Bulgakow. Stalin war für ihn ein moderner Pilatus, der ihn seiner Meinung nach den „Hohepriestern“ der RAPP wider bessere Einsicht geopfert habe. Und Bulgakow hoffte bis 1939, als er das Stalin-Stück „Batum“ abschloß, daß dieser noch den Weg zu ihm suchen würde, wie es der Roman „Der Meister und Margarita“ in bezug auf den historischen Pilatus im Verhältnis zu Jeschua postuliert. Bulgakow hat sich schrecklich geirrt.24
V
1967 schrieb Ilja Ehrenburg in seinen Memoiren: „Unlängst erschien Michail Bulgakows phantastischer Roman ‚Der Meister und Margarita‘, der vor 35 Jahren geschrieben wurde. Jerschalaim ist eine lebendige Stadt, und die Kapitel, die Pontius Pilatus gewidmet sind, habe ich wie eine vortreffliche Erzählung über einen Zeitgenossen von uns gelesen, dagegen sind die Kapitel, in denen das Moskauer Leben der zwanziger Jahre geschildert wird, nach meiner Ansicht veraltet.“ Ilja Ehrenburg versuchte damals in „Menschen Jahre Leben“ seine Epoche rationalistisch zu erschließen in Hoffnung auf die Fortsetzung des sozialistischen „Tauwetters“. Bulgakows phantastische Vision der Epoche erschien ihm daher abwegig.
Aber gerade in Bulgakows phantastischer Fabel lag die Möglichkeit, über diese Epoche literarisch hinauszugreifen. Wenn Iwan Hauslos nach seinem geistigen Zusammenbruch als Proletkultschriftsteller nur noch die eine Frage interessiert, wie es mit Pilatus weiterging, dann hat er bewußt oder unbewußt erfühlt, daß die Pilatus-Frage seine Epochenfrage ist. Die Pilatus-Vision wird zur Tagesfrage. Das Grundmodell Jeschua-Pilatus wird übergreifend. Und Bulgakow kann in dieses phantastische Sujet alles integrieren25, was sich später, nach dem Beginn der Arbeit am Roman, ereignete – der Kampf der RAPP gegen die Bulgakowerei26, die Ereignisse des Großen Terrors in den dreißiger Jahren27 –, ohne in Allegorismus zu verfallen. Das phantastische Sujet greift damit ungeachtet aller Illusionen in bezug auf Stalin über Bulgakows Zeit hinaus. Die Vision bleibt: Alle voluntaristischen Systeme, die dem Pilatus-Modell folgen, sind früher oder später zum Untergang verurteilt.
Berlin, August 1994 Ralf Schröder
(In: Michail Bulgakow: Gesammelte Werke. Hrsg. und mit literaturgeschichtlichen Anmerkungen versehen von Ralf Schröder. Bd. 3. Der Meister und Margarita. – Verlag Volk und Welt, Berlin 1994, S. 493-514.)
Die Abbildung des Buchumschlages erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Lothar Reher.
Nachbemerkung von Michael Leetz:
Diese „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ sind das letzte Nachwort, das Ralf Schröder über den Roman „Der Meister und Margarita“ geschrieben hat. Es erschien 1994 im dritten Band der 13bändigen Werkausgabe Michail Bulgakows, die Ralf Schröder von 1992 bis 1996 im Verlag Volk und Welt bzw. Volk & Welt herausgab (Mitte der 90er Jahre wurde im Verlagsnamen das „und“ aus realsozialistischen Zeiten gegen das besser zur „freien Marktwirtschaft“ passende sogenannte Kaufmanns-Und „&“ getauscht). In den Fußnoten zu diesem Nachwort stellt Ralf Schröder Verbindungen zu den anderen Werken Bulgakows innerhalb des Gesamtschaffens des Schriftstellers her, die zum kleineren Teil in den vorangegangen zwei Bänden der Ausgabe schon vorlagen, größtenteils aber in den darauffolgenden Bänden, die bereits editorisch konzipiert waren, noch erscheinen sollten. Deshalb erscheinen in den Fußnoten auch immer wieder Verweise auf die anderen Bände der Ausgabe. Die „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ unternehmen also den Versuch, die Bedeutung von Bulgakows zentralem Werk „Der Meister und Margarita“ innerhalb des Gesamtschaffens des Autors darzustellen und dabei auf übergreifende Grundgedanken der literaturgeschichtlichen Analyse Ralf Schröders zu orientieren.
Als Herausgeber der Bulgakow-Ausgabe schrieb Ralf Schröder nicht nur die „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ zu den einzelnen Bänden der Bulgakow-Ausgabe sowie umfangreiche Kommentare, er entwarf auch die Gesamtkonzeption der Ausgabe und wählte die Textfassungen sowie die verschiedenen Varianten der Bulgakowschen Werke aus, die in die Ausgabe aufgenommen wurden.
Nicht zuletzt die editorische Leistung Ralf Schröders ließ Fritz J. Raddatz resümierend feststellen: „bis heute gilt die mustergültige Bulgakow-Gesamtausgabe als Pioniertat“.
Dieses Zitat stammt aus Raddatz‘ Nachruf auf den Verlag Volk und Welt, der im März 2001 in der „Zeit“ erschien: „Abgewickelt. Der Verlag Volk und Welt ist tot“.
Auch das marktwirtschaftliche „&“ konnte den Verlag, einer der bedeutendsten in der DDR, nicht retten.
Ralf Schröder, der sich selbst als Volk-und-Weltler bezeichnete, überlebte seinen Verlag um einen Monat: er starb am 15. April 2001.
Nach dem Tod von Volk und Welt wurden die Bücher des Verlages vom Luchterhand Literaturverlag / Random House übernommen, so auch die Bulgakow-Gesamtausgabe. Einige ihrer Bände veröffentlichte Luchterhand als Taschenbuch innerhalb der Reihe „Sammlung Luchterhand“. „Der Meister und Margarita“ wurde zu einem Bestseller: In seinem Newsletter vom März 2010 verkündete Luchterhand stolz, daß das Buch bisher über 50 000 Mal verkauft worden sei: siehe Link zum Newsletter. Als Taschenbuchausgabe lebten Teile der „mustergültigen Bulgakow-Gesamtausgabe“ mit den „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ von Ralf Schröder weiter. Allerdings wurde Ralf Schröder nicht als der Herausgeber der Ausgabe, die Luchterhand bis heute mit großem Gewinn weiterverkauft, genannt; in den Fußnoten zu den „Literaturgeschichtlichen Anmerkungen“ zu „Der Meister und Margarita“ wurden Ralf Schröders Verweise auf die anderen Bände der Bulgakow-Gesamtausgabe gestrichen. Und in der 14. Auflage von „Der Meister und Margarita“, die im Frühjahr 2012 erschien, wurde das Nachwort von Ralf Schröder ohne Vorankündigung und ohne Angabe von Gründen aus der Ausgabe entfernt.
Titelblatt der 1. Auflage von „Der Meister und Margarita“, April 2005, mit Ralf Schröder.
Und die 14. Auflage, 2012, ohne Ralf Schröder.
Anmerkungen:
- So betonte S. Landmann im „St. Galler Tageblatt“ vom 28. April 1968, daß Bulgakows „Christus-Interpretation sich mit der atheistischen Weltkonzeption des Kommunismus ganz gut vertrug.“ ↩
- Siehe Band 6 dieser Ausgabe. ↩
- Vollständige Texte in Band 5 dieser Ausgabe. ↩
- Diese Initialen wurden bisher nicht entschlüsselt. ↩
- Der dänische Journalist Kirkeby besuchte in derselben Zeit die Zeitschrift und schrieb: „In Bezug auf Zynismus und Lästerlichkeit ist sie einzigartig in der Weltgeschichte … Auf die Frage, was Jesus zu dieser Propaganda sagen würde, wenn er in unseren Tagen lebte, entgegnete die wackere Redakteurin, er habe überhaupt nicht gelebt, sondern sei ein von der Bourgeoisie geschaffenes Phantom. ‚Wenn aber dieses „Phantom“ doch in unserer Zeit gelebt hätte, wäre es Kommunist gewesen?‘ ‚Nein, Christus wird als Gegner jedes Kampfes dargestellt, und Kommunismus ist Kampf.‘“ ↩
- Siehe die Bände 5 und 6 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 1 und 8 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 1 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 1 dieser Ausgabe. ↩
- Prototyp ist der General Slastschow, der als „Henker der Krim“, aber auch als reumütiger Sünder in die Geschichte einging, der aus der Emigration freiwillig in die Sowjetunion zurückkehrte, um sich dem Gericht seines Volkes zu stellen, und den die damalige Sowjetregierung, d. h. vor allem Lenin und Trotzki, verzieh, nicht jedoch ein blindwütiger Rächer eines seiner frühen Opfer. Siehe Band 8 dieser Ausgabe. ↩
- Analog doppelbödig ist Bulgakows Rezeption des „Liedes vom weisen Oleg“ im Finale des Stückes „Die Tage der Turbins“. Das „ewige Thema“ der Selbsttäuschungen eines zeitweiligen Siegers der Geschichte bezieht sich direkt auf den militärischen Sieger im Bürgerkrieg, aber indirekt auch zugleich auf die Sieger der Machtkämpfe im Kreml 1926. Siehe Band 8 dieser Ausgabe. ↩
- Ursprünglich war der Roman als eine Trilogie über den Bürgerkrieg von 1918 bis 1920 geplant. Siehe Band 1 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 8 und 9 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 4 dieser Ausgabe. ↩
- Analog hatte Bulgakow schon in „Hundeherz“ das spätere Schicksal Lew Kamenews vorausgesagt, des alten Leninisten, der als Moskauer Parteisekretär 1923/24 Stalin gegen den „Block Lenin-Trotzki“ unterstützte, „Hundeherz“ persönlich verbot, aber 1936 auf Geheiß Stalins im ersten „Moskauer Prozeß“ zum Tode verurteilt wurde. Näheres Band 6 dieser Ausgabe. ↩
- Bulgakow verglich in diesem Zusammenhang seine literarische Groteske mit der Hoffmanns: Sie reicht „von gutmütigem Humor des Mitleidens bis zur boshaften vernichtenden Satire, von der harmlosen Karikatur bis zur zynischen abschreckenden Groteske.“ Näheres siehe Band 2 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Jelena Sergejewna Bulgakowa: Margarita und der Meister. Tagebücher. Erinnerungen, Verlag Volk und Welt, Berlin 1993 ↩
- Das ist ein Zitat aus Lenins Artikeln über Lew Tolstoi. Jelena Bulgakowa wollte damit die Legitimierung von „Der Meister und Margarita“ in der Sowjetunion befördern. Bulgakows Roman stehe in der von Lenin als vorbildhaft verallgemeinerten Tradition russischer Literatur. Dieser tagespolitischen Taktik ist auch der anschließende Bezug auf Ilja Ehrenburgs berühmten Roman „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito…“ (1921) untergeordnet. Als Nebeneffekt zum herausgestellten gewichtigen und augenscheinlichen Traditionsbezug Volands auf den „Meister Jurenito“, den „Provokateur der Weltgeschichte“, der die Eigengesetzlichkeit des Zusammenbruchs einer Zivilisation nur provokativ beförderte, war dies als ein indirekter Hinweis zur Legitimierung von Bulgakow gedacht, da Ehrenburgs Roman, der seit Ende der zwanziger Jahre in der Sowjetunion verboten worden war, Anfang der sechziger Jahre wieder erscheinen durfte. ↩
- Über diesen von Bulgakow indirekt angesprochenen Prolog der „Teufeliaden“ in der russischen Literaturgeschichte Näheres in Band 6 dieser Ausgabe. ↩
- In den Romanfragmenten von 1928/29 ist der Bezug auf Dostojewskis Wlas-Motiv noch unmittelbarer als in der Endfassung des Romans: Voland fordert Iwan auf, ein im Sand gezeichnetes Porträt Christi mit den Füßen zu zertreten (Siehe Band 4 dieser Ausgabe). Mit der weiteren Annäherung Bulgakows an das mystische, apokalyptische Weltbild Dostojewskis verstärkt sich aber auch gleichzeitig seine Polemik gegen dessen Verabsolutierung der Dogmen der orthodoxen Kirche und des militanten großrussischen Messianismus. Bulgakow lehnte bezeichnenderweise auch eine kirchliche Beerdigung und ein Kreuz auf seinem Grab ab. Er verfügte eine staatliche Beerdigung in Ausrichtung des Sowjetischen Schriftstellerverbandes und eine unorthodoxe Urnenbeisetzung. ↩
- Ähnlich verhält es sich in Bulgakows späteren phantastischen Stücken „Glückseligkeit“ und „Iwan Wassiljewitsch“. Siehe Band 10 dieser Ausgabe. ↩
- In den früheren Romanfragmenten datierte Bulgakow die Heimsuchung Moskaus durch Voland und seine Suite direkt, zunächst 1943, dann 1945 (siehe Band 4 dieser Ausgabe). In der Endfassung des Romans siedelt er Volands „Walpurgisnacht“ im Moskau des Jahres 1929 an, seinem Katastrophenjahr als Schriftsteller (siehe Band 9 und 10 dieser Ausgabe). Und genau 1900 Jahre, wie Bulgakow bei seinen Bibelforschungen eruierte, nach der Kreuzigung Christi. ↩
- Siehe Band 10 dieser Ausgabe. ↩
- Näheres hierzu in Band 9 dieser Ausgabe. ↩
- Wie schon in den „Teufeliaden“. Aber dort sind die zeitpolitischen Allegorien, die in das phantastische Sujet eingearbeitet wurden, erschließbar (siehe Band 6 dieser Ausgabe). In „Der Meister und Margarita“ ist das nicht zu rekonstruieren, da Bulgakow die Textstellen mit tagespolitischen Bezügen aus Vorsicht vernichtet hat. ↩
- Siehe Band 9 dieser Ausgabe. ↩
- Siehe Band 4 dieser Ausgabe. ↩