Meister und Margarita 1967
Ralf Schröder: Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ im Spiegel der Faustmodelle des 19. und 20. Jahrhunderts

Buchumschlag von Harald Metzkes
„Einen langen Weg hat der Teufel zurückgelegt, vom ‚Buch Hiob‘ in der Bibel bis zum ‚Prolog im Himmel‘ im ,Faust‘. Von Iwan Karamasow zu Adrian Leverkühn war es nur ein Sprung – noch längst kein Jahrhundertsprung“, schrieb Anna Seghers vor fünf Jahren. Unter dem Eindruck der modernen Moskauer Inszenierung der „Brüder Karamasow“ warf die Dichterin der Romane „Das Siebte Kreuz“, „Die Toten bleiben jung“ und „Die Entscheidung“ dann weiter eine Frage auf, die heute nach dem Erscheinen von Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ besondere Bedeutung gewonnen hat: „Auf der Bühne in Moskau hatte der Dostojewskische Teufel seine Selbständigkeit, seine menschenversuchende, menschenquälende Funktion aufgegeben. Er war eins geworden mit dem schlechten, gemeinen, elenden Menschen. Endgültig? Kann er sich noch einmal in einer Dichtung unserer Epoche verselbständigen? Nicht entmachtet, entteufelt – so kommt er noch oft in der Kunst vor, als eine Art Fastnachtsspuk –, sondern im Vollbesitz seiner Macht, als echtes Symbol der Verneinung. Kann der Teufel noch einmal, nach Dostojewski und nach Thomas Mann, glaubhaft dargestellt werden, als Widerspiegelung eines grauenhaft verlockenden Zweifels, der heute Menschen verwirrt?“
Der 1891 geborene sowjetische Schriftsteller Michail Afanassjewitsch Bulgakow hat es versucht. Freilich: Bulgakows Roman über die Zweifel und Sinnverwirrungen, die der Satan Voland und seine drei gewaltigen Gesellen Korowjew, Behemoth und Asasello im nachrevolutionären Moskau hervorrufen, wurde bereits 1940, dem Todesjahr des Schriftstellers, abgeschlossen – drei Jahre bevor Thomas Mann die Arbeit am „Doktor Faustus“ aufnahm. Aber erst 1966/67 erschien „Der Meister und Margarita“ in der sowjetischen Literaturzeitschrift „Moskwa“, deren Fassung des Romans unserer Ausgabe zugrunde liegt.
Bulgakow wählte programmatisch als Motto seines Romans die Worte Goethes: „Nun gut, wer bist du denn? Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Tatsächlich hat Bulgakow eine selbständige phantastische Teufelsgestalt geschaffen und in ihr noch einmal jene Momente vereinigt, die Goethes Mephisto symbolisiert: das allgemeine Prinzip der dialektischen Negation, den Geist des Bösen und zum Teil auch – wenn man es typologisch nimmt – den Geist des Kapitalismus. Das erscheint heute allerdings nach Dostojewskis „Brüder Karamasow“, Gorkis „Samgin“, Alexej Tolstois „Leidensweg“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“ als literaturgeschichtlicher Anachronismus. Dennoch: Bulgakows Roman bestätigt einmal mehr Friedrich Engels‘ Worte, daß die Faustsage unerschöpflich ist und in jeder Zeit auf neue Weise künstlerisch verarbeitet werden kann.
Worin besteht der „literaturgeschichtliche Anachronismus“ und worin die Originalität von „Meister und Margarita“? Weiterlesen →