Ralf Schröders letztes Nachwort zu „Der Meister und Margarita“

Ralf Schröder: Literaturgeschichtliche Anmerkungen zu Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ (1994)

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Der Meister und Margarita 1994

Buchumschlag von Lothar Reher

Michail Bulgakow (1891–1940) ging erst siebenundzwanzig Jahre nach seinem Tod in die Weltliteratur ein. Sein großer Nachlaßroman „Der Meister und Margarita“, an dem der Schriftsteller von 1928 bis zu seinen letzten Lebenstagen gearbeitet hatte, erschien erstmals 1966/67 in der sowjetischen Literaturzeitschrift „Moskwa“. Das war eine zeitgeschichtliche literarische und zugleich politische Sensation. Völlig unerwartet tauchte aus verdrängter Vergangenheit eine neue Menschheitsdichtung auf, die von den Widersprüchen des sowjetischen Staatssozialismus unter Stalin ausging und in der Reihe solcher Werke wie Goethes „Faust“, Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ und Thomas Manns erst nach Bulgakows Tod entstandenem Roman „Doktor Faustus“ angesiedelt ist. Und das Licht des neuentdeckten „Fixsterns“ in diesem weltliterarischen Planetensystem barg zugleich einen fundamentalen ideologischen Sprengstoff angesichts des damaligen geistigen Aufbruchs nach dem sowjetischen „Tauwetter“, der Kritik an der „Magie des Personenkults“ und an Stalins Gewaltmethoden auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Weiterlesen

Wie „Der Meister und Margarita“ in der DDR durch die Zensur ging

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Ralf Schröder: „Der Meister und Margarita“ – die absolute Spitze beim Ausgraben der unter Stalin verdrängten literarischen Vergangenheit (1997)

Die absolute Spitze beim Ausgraben der unter Stalin verdrängten literarischen Vergangenheit in der Zeit nach dem XX. Parteitag war die Veröffentlichung des Romans „Der Meister und Margarita“ in der Zeitschrift „Moskva“ („Moskau“) 11/66 und 1/67. Unverkennbar war schon auf den ersten Blick: Hier wurden die Widersprüche des Stalinschen „Sozialismus in einem Land“ auf weltliterarischer Ebene als eine zu überwindende Zwischenzeit sarkastisch ad absurdum geführt. Ein großer Eideshelfer für die Notwendigkeit der radikalen Abrechnung mit dem Stalinismus und der weiteren, vertieften Entfaltung sozialistischer Demokratie war plötzlich aus dem Vergessen aufgetaucht. Doch wie konnte dieses Meisterwerk in der damaligen DDR publiziert und verbreitet werden, in der selbst das Wort „Personenkult“ nach dem Ende der „Tauwetter“-Zeit verboten worden war? Der zeitgeschichtliche Bezug des Romans mußte unbedingt verschleiert werden. Nur die Betonung der menscheitsgeschichtlichen Bedeutung, der humanistisch-aufklärerischen weltliterarischen Traditionen und Qualitäten konnte eine DDR-Veröffentlichung rechtfertigen und sogar erzwingen, da die Pflege dieser Traditionen zum übergreifenden Partei- und Verlagsprogramm gehörte.

Für eine entsprechende Argumentation hatte Bulgakow selbst vorgearbeitet, der, auch wenn man die neuen Freiheiten nach dem XX. Parteitag berücksichtigt, unter prinzipiell analogen zeitgeschichtlichen Zwängen publizieren wollte. Er war in jeder Beziehung ein Vorläufer und Vorbild. Weiterlesen

Der Meister und Margarita 1967

Meister und Margarita 1967

Ralf Schröder: Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ im Spiegel der Faustmodelle des 19. und 20. Jahrhunderts

Erstausgabe von "Der Meister und Margarita" 1968

Buchumschlag von Harald Metzkes

„Einen langen Weg hat der Teufel zurückgelegt, vom ‚Buch Hiob‘ in der Bibel bis zum ‚Prolog im Himmel‘ im ,Faust‘. Von Iwan Karamasow zu Adrian Leverkühn war es nur ein Sprung – noch längst kein Jahrhundertsprung“, schrieb Anna Seghers vor fünf Jahren. Unter dem Eindruck der modernen Moskauer Inszenierung der „Brüder Karamasow“ warf die Dichterin der Romane „Das Siebte Kreuz“, „Die Toten bleiben jung“ und „Die Entscheidung“ dann weiter eine Frage auf, die heute nach dem Erscheinen von Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ besondere Bedeutung gewonnen hat: „Auf der Bühne in Moskau hatte der Dostojewskische Teufel seine Selbständigkeit, seine menschenversuchende, menschenquälende Funktion aufgegeben. Er war eins geworden mit dem schlechten, gemeinen, elenden Menschen. Endgültig? Kann er sich noch einmal in einer Dichtung unserer Epoche verselbständigen? Nicht entmachtet, entteufelt – so kommt er noch oft in der Kunst vor, als eine Art Fastnachtsspuk –, sondern im Vollbesitz seiner Macht, als echtes Symbol der Verneinung. Kann der Teufel noch einmal, nach Dostojewski und nach Thomas Mann, glaubhaft dargestellt werden, als Widerspiegelung eines grauenhaft verlockenden Zweifels, der heute Menschen verwirrt?“

Der 1891 geborene sowjetische Schriftsteller Michail Afanassjewitsch Bulgakow hat es versucht. Freilich: Bulgakows Roman über die Zweifel und Sinnverwirrungen, die der Satan Voland und seine drei gewaltigen Gesellen Korowjew, Behemoth und Asasello im nachrevolutionären Moskau hervorrufen, wurde bereits 1940, dem Todesjahr des Schriftstellers, abgeschlossen – drei Jahre bevor Thomas Mann die Arbeit am „Doktor Faustus“ aufnahm. Aber erst 1966/67 erschien „Der Meister und Margarita“ in der sowjetischen Literaturzeitschrift „Moskwa“, deren Fassung des Romans unserer Ausgabe zugrunde liegt.

Bulgakow wählte programmatisch als Motto seines Romans die Worte Goethes: „Nun gut, wer bist du denn? Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Tatsächlich hat Bulgakow eine selbständige phantastische Teufelsgestalt geschaffen und in ihr noch einmal jene Momente vereinigt, die Goethes Mephisto symbolisiert: das allgemeine Prinzip der dialektischen Negation, den Geist des Bösen und zum Teil auch – wenn man es typologisch nimmt – den Geist des Kapitalismus. Das erscheint heute allerdings nach Dostojewskis „Brüder Karamasow“, Gorkis „Samgin“, Alexej Tolstois „Leidensweg“ und Thomas Manns „Doktor Faustus“ als literaturgeschichtlicher Anachronismus. Dennoch: Bulgakows Roman bestätigt einmal mehr Friedrich Engels‘ Worte, daß die Faustsage unerschöpflich ist und in jeder Zeit auf neue Weise künstlerisch verarbeitet werden kann.

Worin besteht der „literaturgeschichtliche Anachronismus“ und worin die Originalität von „Meister und Margarita“? Weiterlesen